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Sören Kierkegaard

Kritik der Gegenwart

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Zuerſt veröffentlicht in der Halbmonatsſchrift „Der Brenner“ eee

Alle Rechte vorbehalten Copyright by Brenner-Verlag Innsbruck Gedruckt bei R. & M. Jenny, Innsbruck 5

Auguſt 19112

Kritik der Gegenwart

njere Zeit iſt weſentlich die verſtändige, die reflek— tierende, die leidenſchaftsloſe, die flüchtig in Bes geiſterung aufbrauſende und klug in Indolenz ausruhende. Hätte man wie über den Verbrauch an Branntwein &, Tabellen über den Verbrauch an Verſtand von Generation zu Generation: ſo würde man ſtaunen, welches ungeheure Quantum heute verbraucht wird, welche Menge von Be— denken, Ueberlegungen und Rückſichten ſelbſt eine priva⸗ tiſierende kleine Familie nötig hat, welches Quantum ſogar Kinder und Jünglinge brauchen, denn wie der Kinderkreuzzug das Symbol des Wittelalters iſt, ſo iſt die Kinderklugheit das der Gegenwart. Ob es wohl noch einen Wenſchen gibt, der bloß einmal einen gewaltigen dummen Streich macht? Nicht einmal ein Selbſtmörder macht es jetzt in Deſperation mit ſich ab, ſondern er überlegt dieſen Schritt ſo lange und ſo umſtändlich, bis er von Verſtändigkeit erſtickt wird, ſo daß man ſogar Zweifel hegen könnte, ob er wirklich ein Selbſt⸗ mörder genannt werden darf, inſoweit es doch vor allem der Verſtand war, der ihm das Leben nahm. Ein Selbſtmörder aus Ueberlegung war er nicht, eher ein Selbſtmörder durch Ueberlegung. Es könnte deshalb die ſchwierigſte aller Auf» gaben werden, gegen eine ſolche Zeit Aktor ſein zu ſollen, denn die ganze Generation iſt reif zum Advokaten, und ihre Kunſt, ihre Verſtändigkeit, ihre Virtuoſität beſtehen darin, niemals handelnd die Sache zur Entſcheidung kommen zu laſſen.

. . . Es würde für einen Aktor ganz unmöglich fein, irgend ein Faktum feſtgeſtellt zu erhalten, weil gar keines da iſt. Aus Indizien im Ueberflug müßte man ſchließen, daß ent⸗ weder etwas Außerordentliches geſchehen ſei oder in aller- kürzeſter Zeit geſchehen müſſe. Und doch würde man gerade damit fehlſchließen, denn die Indizien ſind die einzigen Verſuche der Gegenwart in Kraftpräſtation, und die Er⸗ findſamkeit und Virtuoſität im Aufſtellen von verlockendem Blendwerk, die Uebereilung in aufbrauſender Begeiſterung für allerlei Projekte ſind in Richtung auf Klugheit und negativen Kraftaufwand gerade ſo hoch anzuſchlagen wie die Leiſtung einer Revolutionszeit in Richtung auf energiſche und umſchaffende Leidenſchaft. Ermattet von der chimäri⸗ ſchen Anſtrengung ruht ſich das Zeitalter momentweiſe in vollkommener Indolenz aus. Sein Zuſtand gleicht dem der gegen Morgen Einſchlummernden: große Träume, dann Schlappheit, dann ein witziger oder kluger Einfall zur Ent⸗ ſchuldigung, daß man liegen bleibt.

Das einzelne Individuum (ſelbſt wie wohlmeinend manche von ihnen ſein mögen, ſelbſt wie viel Kraft ſie möglicher⸗ weiſe haben, wenn ſie dazu kommen könnten, ſie zu ge⸗ brauchen) hat nicht geſchloſſene Leidenſchaft genug in ſich ſelber, um ſich aus dem Garn und aus dem verführeriſchen Ungewifjen der Reflexion zu reißen; und die Umgebung. die Gegenwart haben nicht Ereignis oder vereinte Leiden⸗ ſchaft, ſondern bilden in negativer Vereinigung einen Re⸗ flexionswiderſtand, der zuerſt und einen Augenblick lang täuſchende Ausſichten vorgaukelt, und dann betrügt, indem er mit glänzenden Ausflüchten ſtärkt: daß man doch das Klügſte getan habe, als man es bleiben ließ zu handeln. Vis inertiae liegt der Tergiverſation der Zeit zu Grunde,

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und jeder Leidenſchaftsloſe gratuliert ſich ſelber als erſtem Erfinder und wird noch klüger. Wurde in der Nevolu— tionszeit die Waffe frei ausgeliefert, wurde zur Zeit der Kreuzzüge das Inſignium der Tat öffentlich ausgeteilt: ſo wird man heute überall mit Klugheitsregeln, Rückſichts⸗ berechnungen &. frei gehalten. Angenommen eine ganze Generation hätte die diplomatiſche Aufgabe, die Zeit hin⸗ zuhalten, ſo daß es beſtändig verhindert würde, daß etwas geſchehe, und doch beſtändig ſo ausſehe, als geſchehe etwas: ſo kann man unſerer Zeit nicht das Verdienſt aberkennen, daß fie etwas genau fo Wunderbares leiſtet wie die Revolu⸗ tionszeit. Wenn einer das Experiment mit ſich ſelber an⸗ ſtellte, alles zu vergeſſen was er von der Zeit und von ihrer durch Gewohnheit aufgeſchraubten faktiſchen Relativität weiß, und nun gleichſam aus einer ganz andern Welt zu kommen, wenn er ſo das eine oder andere Buch leſen würde, einen Artikel in einer Zeitung, oder nur mit einem Vorübergehen⸗ den redete, er bekäme den Eindruck: Tod und Teufel, noch heute Abend muß etwas geſchehen, oder es muß vorgeſtern Abend etwas geſchehen ſein.

Im Gegenſatz zur Revolutionszeit, als handelnder, iſt die Gegenwart die Zeit der Annoncen, die Zeit der vermiſchten Neuigkeiten. Ein Aufruhr wäre in unſerer Zeit das Un⸗ denkbarſte von allem; eine ſolche Kraftäußerung käme der berechnenden Verſtändigkeit der Zeit lächerlich vor. Da⸗ gegen wäre vielleicht ein politiſcher Virtuoſe zu einer ganz anders erſtaunlichen Ku nſt präſtation imſtande. Er wäre imſtande einen Aufruf zu ſchreiben, der die Abhaltung einer Generalverſammlung vorſchlägt um eine Revolution zu beſchließen, ſo vorſichtig, daß ſelbſt der Cenſor ihn paſſieren laſſen müßte; und danach wäre er am Abend imſtande, auf

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die Verſammlung einen jo täuſchenden Eindruck zu machen, daß es ihr iſt, als hätte ſie den Aufruhr gemacht; worauf die Teilnehmer ganz ruhig auseinandergingen nach⸗ dem ſie einen höchſt behaglichen Abend verbracht hatten Der Erwerb einer enorm gründlichen Gelehrſamkeit wäre faſt undenkbar unter den Jüngeren unſerer Zeit, man würde es lächerlich finden. Dagegen wäre ein wiſſenſchaftlicher Vir⸗ tuos imſtande, ein ganz anderes Kunſtſtück zu machen. Er würde imſtande ſein in einem Subſkriptionsplan einige Linien hinzuwerfen zu einem allumfaſſenden Syſtem, und es jo zu machen, daß er in dem Leſer (des Subſkriptions⸗ planes) den Eindruck hervorbrächte, daß er ſchon das Sy⸗ ſtem geleſen habe. Denn die Zeit der Enzyklopädiſten iſt vorbei, derer nämlich, die mit eiſernem Fleiß Folianten ſchrieben, jetzt iſt die Reihe an die leichtbewaffneten Enzy⸗ klopädiſten gekommen, die mit dem ganzen Daſein und allen Wiſſenſchaften en passant fertig werden. Ein tief religiöfer Verzicht auf die Welt und was der Welt iſt, feſtgehalten in täglicher Verleugnung, wäre undenkbar unter den Jüngeren unſerer Zeit: dagegen beſäße jeder zweite Kandidat der Theo⸗ logie Virtuoſität genug, etwas weit Wunderbareres zu tun. Er wäre imſtande die Gründung einer Geſellſchaft vorzuſchla⸗ gen, deren Abſicht keine geringere iſt als alle Verlorenen zu retten. Die Zeit der großen und guten Handlungen iſt vorbei, die Gegenwart iſt die der Antizipationen. Keiner will ſich damit begnügen, etwas Beſtimmtes zu tun, jeder will ſich von der Reflexion mit der Einbildung ſchmeicheln laſſen, daß er mindeſtens einen neuen Weltteil entdecken müſſe. Wie ein junger Wenſch, der ſich entſchließt vom 1. September ab in allem Ernſt für das Examen zu arbeiten, um ſich darin zu beſtärken, vorher im Auguſtmonat zu feiern beſchließt:

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jo ſcheint, was doch bedeutend ſchwieriger zu verſtehen ift, die jetzige Generation den ernſthaften Entſchluß gefaßt zu haben, daß die nächſte Generation im Ernſt die Arbeit beginnen ſolle, und damit dieſer keine Störung oder Verzö— gerung erwachſen, ſo nimmt die gegenwärtige die Feſtmahle auf ſich. Nur iſt der Unterſchied der, daß der junge Wenſch jugendlich ſich ſelbſt verſteht im Leichtſinn, die Gegenwart wird ſogar ernſt bei Feſtmahlen.

Handlung und Entſcheidung ſind in der Gegenwart genau ſo wenig da, wie die gefährliche Luſt des Schwimmens für den, der im Seichten ſchwimmt. Aber wie der Erwachſene, der ſelber mit Luſt ſich in den Wellen herumwirft, dem Jüngeren zuruft: Komm heraus, ſpring nur friſch zu fo liegt die Entſcheidung gleichſam im Daſein (wiewohl ſie natürlich im Individuum liegt) und ruft dem Jüngeren zu, der noch nicht ermattet iſt von dem Zuviel der Reflexion und überſättigt von deren Einbildungen: Komm heraus, ſpring fröhlich zu; ſelbſt wenn es ein leichtſinniger Sprung war, wenn er nur entſcheidend iſt ſo du nur tüchtig biſt Mann zu fein, fo ſollen die Gefahr und des Daſeins ſtrenges Ur- teil über deinen Leichtſinn dir dazu helfen, es zu werden.

Wenn das Kleinod, das Aller Luſt iſt, weit draußen läge auf einer ganz dünnen Eisſcholle, jo daß die Lebens⸗ gefahr alſo Wacht bei ihm hielt, wachend, daß es ein lebens⸗ gefährliches Wageſtück blieb, ſo weit hinauszugehen, denn (laß uns dieſes Sonderbare annehmen, das doch nur im Bilde ſonderbar iſt) etwas weiter innen war das Eis ganz ſicher und feſtgefroren: ſo würde in einer leidenſchaftlichen Zeit die Menge dem Mutigen Beifall zujubeln, wenn er ſich hinauswagte; ſie würde für ihn ſchaudern und mit ihm in der Lebensgefahr der Entſcheidung; ſie würde trauern

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über feinen Untergang; ſie würde ihn vergöttern, wenn er das Kleinod gewänne In einer leidenſchaftsloſen re⸗ flektierten Zeit wäre die Sache ganz anders. Man würde verſtändig in gegenſeitiger Anerkennung der gegenſeitigen Klugheit insgeſamt einig werden, daß es doch nicht der Mühe wert ſei, ſich ſo weit hinauszuwagen, ja daß es un⸗ verſtändig und lächerlich wäre, und darnach würde man das Wageſtück der Begeiſterung in ein Kunſtſtück verwandeln, um doch etwas zu tun, denn „es muß etwas geſchehen“. Man wanderte alſo hinaus, man würde im Sicheren mit Kennermiene die kunſtfertigen Schlittſchuh⸗ läufer würdigen, die faſt bis zur äußerſten Grenze laufen konnten (ſo weit, wie das Eis noch ſicher war, und die Ge⸗ fahr noch nicht begann) und dann abſchwenkten. Unter den Schlittſchuhläufern wäre nun auch der eine oder der an⸗ dere beſonders Perfektionierte; er könnte ſogar das Kunſt⸗ ſtück fertig bringen, gerade an der äußerſten Grenze noch einen täuſchenden, gefahrdrohenden Anlauf zu nehmen, ſo daß die Zuſchauer riefen: „Gott im Himmel, er iſt verrückt, er ſetzt ſein Leben zu“. Aber er war fo außerordentlich per— fektioniert, daß er ganz richtig an der äußerſten Grenze noch abſchwenken konnte, d. h. wo das Eis ganz ſicher war und die Lebensgefahr noch nicht begann. Ganz wie im Theater würde die Menge bravo rufen und akklamieren, heimkehren mit dem Heldenkünſtler in ihrer Mitte, und ihn mit einem wohlſchmeckenden Feſtmahl ehren. Die Verſtändigkeit hätte in dem Grad überhand genommen, daß ſie die Aufgabe ſelbſt in eine unwirkliche Kunſtaufgabe verwandelt hätte und die Wirklichkeit in ein Theater. Beim Feſtmahl am Abend würde die Bewunderung laut ſich äußern. Und wäh⸗ rend ſonſt das wahre Verhältnis der Bewunderung dieſes

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iſt, daß der Bewundernde erhoben wird durch den Gedanken ein Menſch zu ſein, wie der Ausgezeichnete, gedemütigt durch die Vorſtellung ſelbſt nicht vermocht zu haben, das Große auszuführen, ethiſch ermuntert durch das Vorbild, nach Kräften dem Beiſpiel des Ausgezeichneten zu folgen: jo hätte die Verſtändigkeit wieder das Verhältnis der Be⸗ wunderung verwandelt. Die beim Feſtmahl bewundernd Anſtoßenden hätten ſogar im ausgelaſſenſten Augenblick der Fanfaren und Bravorufe eine verſtändige kluge Vorſtellung davon, daß es doch eigentlich nicht ſo ſonderlich bewandt ſei mit der Tat des Bewunderten, daß es im Grund ein Zu⸗ fall war, daß das Feſt für ihn gemacht wurde, da jeder Teil— nehmer mit einiger Uebung in täuſchenden Wendungen ungefähr dasſelbe leiſten könnte. Kurz anſtatt Stär⸗ kung in Erkenntlichkeit und Aufmunterung zum Guten aus der Feſtlichkeit zu holen, gingen die Anſtoßenden eher nach Hauſe mit einer größeren Dispoſition zur gefährlichſten aller Krankheiten, freilich auch zur vornehmſten, der nämlich: in Geſellſchaft gleichſam zu bewundern, was man doch ſelbſt für unbedeutend anſieht, weil das Ganze ein dramatiſcher Spaß geworden war, und der Bewunderung ſtimulierender Kling⸗Klang in heimlichem Einverſtändnis damit, daß man faſt gerade ſo gut ſich ſelber bewundern könne.

Daß ein Mann ſteht und fällt mit ſeiner Tat, kommt außer Brauch, dagegen bleiben alle ſitzen und ſchlagen ſich doch brillant durch mit Hilfe von etwas Reflexion, und ſo mit Hilfe dieſes: daß ſie ganz gut wiſſen, was man tun muß. Aber, was zwei und zwei in der Unterredung, was die Einzelnen als Leſer, als Demonſtrierende in einer Ge⸗ neralverſammlung ganz genau in Form von Reflexion und

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Betrachtung verſtehen: das würden fie gar nicht in der Form der Tat verſtehen können. Wenn einer herumginge und zuhörte, was man ſagte, daß geſchehen ſoll, und nun, im Intereſſe der Ironie, „mir nichts dir nichts“ etwas davon täte: ſo würden alle ſtutzen, würden es übereilt finden, und ſobald ſie betrachtend es beſprächen, würden ſie verſtehen, daß es das war, was man tun mußte.

Unferer Zeit mit ihrer aufbrauſenden Begeiſterung und dann wieder apathiſchen Indolenz liegt das Komiſche ſehr nahe; aber der, der ſich auf das Komiſche verſteht, ſieht leicht, daß es an einer ganz andern Stelle liegt, als un⸗ ſere Zeit ſich einbildet, und daß die Satire heute,

wenn es möglich ſein ſoll, daß ſie etwas Nutzen ſchaffe und

nicht unermeßlichen Schaden anrichte, zu ihrem Bürgen eine konſequente und wohlbegründete ethiſche Lebensanſchauung haben muß, eine aufopfernde Uneigennützigkeit, eine hoch⸗ geborene Vornehmheit, die auf den Augenblick verzichtet; ſonſt wird die Medizin ohne Vergleich unendlich viel ge⸗ fährlicher als die Krankheit. Das Komiſche liegt gerade darin, daß eine ſolche Zeit auch noch witzig ſein und großen Auf⸗ wand im Komiſchen treiben will; denn dies iſt ganz richtig die letzte Taſchenſpielerausflucht. Worauf hat wohl eine ausreflektierte Zeit zu trotzen in Hinſicht auf das Komiſche? Als leidenſchaftslos hat ſie keine Gefühlsvaluta im Eroti⸗ ſchen, keine Begeiſterungs- und Innerlichkeits-Valuta im Politiſchen und Religiöfen, keine Häuslichkeits⸗, Pietäts⸗, Bewunderungs-Valuta im täglichen Umgangsleben. Aber des Witzes, der keine Deckung hat, ſpottet das Daſein, ſelbſt wenn er des Pöbels ſchallendes Gelächter für ſich hat. Witzig ſein zu wollen, wenn man nicht den Reichtum der Innerlichkeit hat, heißt Luxus treiben und das Nötigfte

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des Lebens entbehren, heißt, wie das Sprichwort fagt, feine Hoſen hergeben um eine Perücke zu kaufen. Aber eine [ei- denſchaftsloſe Zeit hat keine Valuta; alles wird in Reprä- ſentativen umgeſetzt. Es ſind ſo gewiſſe Redensarten und Betrachtungen, zum Teil wahr und verſtändig aber ſeelenlos, die zwiſchen dem Volk kurſieren; jedoch kein Held, kein Liebhaber, kein Denker, kein Glaubensritter, kein Stark⸗ mütiger, kein Verzweifelter ſteht dafür ein, das alles pri⸗ mitiv und vollgültig erlebt zu haben. Und wie man ſich vom Rafcheln des Papiergeldes im Umſatz zwiſchen Mann und Mann darnach ſehnen kann, die Klangfülle der echten Münze zu hören: ſo kann man ſich in der Gegenwart nach ein wenig Urſprünglichkeit ſehnen. Aber was iſt urſprüng⸗ licher als der Witz, urſprünglicher, mindeſtens überraſchender als des Frühjahrs erſte Knoſpe, des erſten Gemüſes zarte Stengel. Ja ſelbſt wenn das Frühjahr auf Abrede käme, es wäre doch immer das Frühjahr, aber ein Witz auf Verabredung wäre widerwärtig. Geſetzt, es käme zur Ablöſung der Fieberigkeit aufbrauſender Begeiſterung ſo weit, daß der Witz, jenes göttliche Acciden; wenn er kommt, jene Zugabe auf den Wink der Götter aus des Unerklärlichen rätſelhaftem Urſprung, jo daß auch der Witzigſte nicht, der gelebt hat, ſagen darf: morgen, ſondern anbetend ſagt: wenn es den Göttern behagt geſetzt daß der Witz in ſeinen ſchäbigſten Gegenſatz verwandelt würde, in ein triviales Lebensbedürfnis, ſo daß es ein profitabler Handels⸗ und Nahrungszweig würde, alte und neue Witze zu fabrizieren, zuzubereiten, umzuſchneidern und aufzukau⸗ fen: welches furchtbare Epigramm auf die witzige Zeit. So wird ſchließlich Geld das einzig Begehrte, es iſt ja auch etwas Repräſentatives und eine Abſtraktion. Selbſt

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ein Jüngling in unſerer Zeit würde einem andern kaum deſſen Gaben mißgönnen, oder ſeine Kunſt, oder die Liebe eines ſchönen Mädchens, oder ſeinen Ruhm, nein aber um ſein Geld würde er ihn beneiden. Gib es mir, wird der Jüngling ſagen, ſo iſt mir geholfen. Und dieſer Jüng⸗

ling, er wird nicht irre gehen in Leichtſinn, er wird nicht

verſchulden, was die Reue heimzahlt, er wird ſich nicht etwas vorzuwerfen haben, aber er wird ſterben in der Ein⸗ bildung, daß, hätte er Geld gehabt, da würde er gelebt haben, da hätte er es vielleicht auch zu etwas be gebracht.

Nach dieſen andeutenden Bemerkungen iſt es wohl in Ordnung, aus der Vergleichung mit der Revolutionszeit die Gegenwart auf dialektiſche Kategorie-Beſtimmungen und deren Konſequenzen zurückzuführen, einerlei ob dieſe im gegebenen Augenblick ganz faktiſch ſind oder nicht. Es iſt nur die Frage um das Wie der Zeitalter, und dieſes Wie wird aus einer univerſelleren Anſchauung gewonnen, deren Schlußfolgerungen durch einen Schluß a posse ad esse erreicht, und durch der beobachtenden Erfahrung Schlüſſe ab esse ad posse verifiziert werden. Was die Bedeutſam⸗ keit angeht, ſo iſt es ja möglich, daß die der Gegenwart ge⸗ ſtellte Aufgabe ſich in einer höheren Exiſtenzform erklären wird; und was die Qualität angeht, ſo iſt es ja gewiß, daß der in der Reflexion Verſteckte gerade jo wohlmeinend fein kann, wie der leidenſchaftlich Entſchloſſene, ebenſo umge⸗ kehrt, daß gerade ſoviel zur Entſchuldigung dienen kann für den, der in Leidenſchaft irre geht, wie für den, der ſelbſt ein hinterliſtiges Wiſſen darum hat, daß er ſich von ſeiner

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Reflexion betrügen läßt, während fein Fehler niemals offen⸗ bar wird. Auch das iſt die gefährliche Mißlichkeit der Re⸗ flerion, daß man nicht ſehen kann, ob es ein aus Ueberle— gung gewonnener Entſchluß iſt, der aus dem Böſen errettet, oder ob es die Erſchöpfung durch Ueberlegung iſt, die ſchwä— chend vom Böſen abhält. Aber gewiß iſt dies, daß wie alle vermehrte Kenntnis den Gram vermehrt, ſo vermehrt ihn auch die Reflexion; und vor allem iſt es gewiß, daß wie für das einzelne Individuum, ſo für eine ganze Generation keine Aufgabe und Anſtrengung ſchwieriger ſind, als ſich aus den Verſuchungen der Reflexion herauszuarbeiten, ge⸗ rade, weil dieſe ſo dialektiſch ſind, weil ein einziger kluger Einfall plötzlich der Sache eine neue Wendung zu geben vermag, weil die Reflexion imſtande iſt in jedem Augenblick umzuerklären und einen irgendwie entſchlüpfen zu laſſen, weil es ſelbſt im letzten Augenblick der Reflexionsent⸗ ſcheidung noch möglich iſt, alles umzukehren nachdem man alſo weit mehr Anſtrengungen ausgehalten hat, als irgend ein ſchnell Entſchloſſener braucht, um mitten drin zu ſein. Aber all dies iſt doch wieder nur Entſchuldigung der Reflexion, und die Stellung in der Reflexion unverändert, weil ſie verändert nur innerhalb der Reflexion iſt, Selbſt dies, daß der Gegenwart, indem ſie mit einem abgeſchloſſenen Zeitalter zuſammengeſtellt wird, in gewiſſer Weiſe Unrecht geſchieht, inſoweit ja die Gegenwart gerade in der Schwierigkeit des Werdens liegt, iſt doch nur eine Reflexions⸗Beſtimmung, denn dafür hat fie ja auch das Ungewiſſe der Hoffnung.

Eine leidenſchaftlich tumultuariſche Zeit wird alles über den Haufen werfen; alles umſtoßen; eine revolutionäre, aber leidenſchaftsloſe und reflektierende

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verwandelt die Kraftäußerung in ein dialektiſches Kunſtſtück: Alles beſtehen zu laſſen, aber ihm heimtückiſch die Bedeutung abzuliſten; ſtatt in einem Aufruhr kulminiert ſie darin, daß ſie die innerliche Wirklichkeit der Verhält⸗ niſſe in einer Reflexionsſpannung abmattet, die Alles beſtehen läßt, aber das ganze Daſein in eine Zweideutigkeit verwandelt hat: ſo daß alles in ſeiner Faktizität beſteht, während dialektiſcher Betrug privatissime eine heimliche Lesart unterſchiebt daß es nicht beſtehe.

Sittlichkeit iſt Charakter, Charakter iſt das Eingegrabene (Jap, aber das Meer hat keinen Charakter und der Sand hat auch keinen und abſtrakte Verſtändigkeit auch keinen, denn der Charakter iſt eben die Innerlichkeit. Unſitt⸗ lichkeit iſt als Energie auch Charakter. Zweideutigkeit iſt es dagegen, wenn man weder das eine noch das andere hat; und Zweideutigkeit im Daſein iſt es, wenn die qualitative Disjunktion der Qualitäten geſchwächt wird durch eine na⸗ gende Reflexion. Der Aufruhr der Leidenſchaften iſt ele⸗ mentariſch, die Auflöſung durch Zweideutigkeit iſt ein ſachter aber Tag und Nacht geſchäftiger Sorites. Die Unterſcheidung zwiſchen Gut und Böſe wird enerviert durch eine leichtfer⸗ tige, vornehme, theoretiſche Kenntnis des Böſen, durch eine hoffärtige Klugheit, die weiß, daß das Gute nicht geachtet wird und ſich nicht lohnt in der Welt ſo daß es nächſtens Dummheit iſt. Keiner wird vom Guten hingeriſſen zu großer Tat, keiner vom Böſen übereilt in himmelſchreien⸗ der Sünde, inſoweit hat keiner dem andern etwas vor⸗

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zuwerfen, und doch gibt es gerade aus dem Grund umſo⸗ mehr zu ſchwätzen, denn die Zweideutigkeit iſt ein unauf⸗ hörliches Inzitament, und ganz anders wortreich als die Freude über das Gute und der Abſcheu vor dem Böſen. Die Springfedern der Lebensverhältniſſe, die nur in einer qualitativ trennenden Leidenſchaft ſind, was ſie ſind, derlieren ihre Elaſtizität. Die Fernheit des Verſchiedenen von ſeinem Gegenſatz im Qualitätsausdruck iſt nicht mehr das Geſetz für das innerliche Verhalten zu einander. Die Innerlichkeit fehlt, und das Verhältnis iſt inſofern nicht da, oder das Verhältnis iſt eine ſchlappe Kohäſion. Das ne⸗ gative Geſetz iſt nämlich: einander nicht entbehren und auch nicht zuſammenhalten zu können, das poſitive: ein⸗ ander entbehren und auch zuſammenhalten zu können, oder doch poſitiv: einander nicht entbehren zu können auf Grund des Zuſammenhalts. Statt des innerlichen Verhältniſſes tritt ein anderes ein: das Verſchiedene verhält ſich nicht zu ſeinem jeweiligen Gegenſatz, ſondern die Partner ſtehen gleichſam da und paſſen aufeinander mit den Augen, und dieſe Spannung iſt eigentlich das Aufhören des Verhältniſſes. Es iſt nicht die Bewunderung, die froh und munter, prompt im Ausdruck der Achtung den Hut abnimmt vor der Auszeichnung, und ſich nun empört gegen deren Stolz und Anmaßung, auch iſt das Verhältnis nicht das umgekehrte, keineswegs, Bewunderung und Aus⸗ zeichnung werden faſt Gleichgeſtellte, die mit den Augen aufeinander paſſen. Es iſt nicht der Bürger, der mit unter⸗ täniger Huldigung freimütig den König ehrt und ſich nun erbittert über deſſen Herrſchſucht, keineswegs, Bürger zu ſein wird etwas ganz anderes, wird zum dritten Mann fein; der Bürger hat kein unmittelbares Verhältnis zum König,

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ſondern er iſt Zuſchauer und rechnet die Aufgabe aus: das Verhältnis zwiſchen einem König und einem Untertan; denn es geht eine zeitlang damit, Komitees und Komitees aufzuſtellen, ſo lange da doch noch beſtändig eine Wenge iſt, die mit voller Leidenſchaft das Beſtimmte ſein will, was ſie ſein ſoll, aber zuletzt endet es damit, daß das ganze Zeitalter zum Komitee wird. Es iſt nicht der Vater, der im Zorn ſeine väterliche Autorität in einem einzigen Fluche ſammelt, nicht der Sohn, der trotzt, eine Trennung, die doch vielleicht in der Innerlichkeit der Verſöhnung enden könnte, nein das Verhältnis iſt ſoweit untadelig, denn es iſt eher im Begriff aufzuhören, weil ſie ſich nicht weſentlich und unmittelbar zu einander verhalten, ſondern das Ver⸗ hältnis iſt ein Problem geworden, wo die Partner gleich wie in einem Spiel auf einander paſſen, anſtatt ein Verhältnis zu einander zu haben; ſozuſagen einander die fälligen Re⸗ pliken in den Mund zählen, ſtatt der reſoluten Hingabe: denn es geht ja eine Zeit lang, daß immer Mehr und Mehr auf des ſtilleren Lebens beſcheidene aber doch ſo gewichtige und Gott wohlgefällige Aufgaben verzichten, um etwas Höheres zu realiſieren, um in einem höheren Verhältnis über die Verhältniſſe nachzudenken, aber zuletzt wird die ganze Generation eine Repräfentation von ja es iſt nicht gut zu ſagen, was ſie repräſentiert; ſie denkt über die Ver⸗ hältniſſe nach ja es iſt nicht gut zu ſagen wem zuliebe. Es iſt nicht eine aufſäſſige Jugend, die doch zittert und bebt vor dem Schulmeiſter, nein, eher iſt das Verhältnis eine gewiſ⸗ fe Gleichheit im gegenſeitigen Austauſch der Gedanken zwi- ſchen Lehrer und Schüler, wie eine gute Schule eingerichtet ſein müſſe. In die Schule gehen bedeutet nicht zu zittern und zu beben, bedeutet auch nicht einzig und allein zu lernen,

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ſondern bedeutet faſt jo etwas wie mitintereſſiert zu fein an dem Problem des Schulunterrichts. Die unterſcheiden— den Beziehungen zwiſchen Mann und Weib werden nicht in vermeſſener Zügelloſigkeit gebrochen, keineswegs, die Schicklichkeit wird ſoweit gewahrt, daß man beſtändig von der einzelnen „unſchuldigen“ Aeußerung des Grenzſtreits und der Liebelei ſagen muß, daß er nichts zu bedeuten habe. Wie ſoll man ein ſolches Verhältnis nennen? Ich denke, eine Spannung, aber wohl zu merken nicht eine Spannung, die die Kraft zu einer Kataſtrophe anſtrammt, ſondern eine, in der das Daſein ſich aufreibt; die Feurigkeit geht verloren und die Begeiſterung und die Innerlichkeit, die der Ub- hängigkeit Kette und des Herrſchertums Krone leicht, die des Kindes Gehorſam und des Vaters Autorität freudig machen, die der Unterwerfung der Bewunderung und der Erhebung der Auszeichnung den Freimut, die dem Lehrer die giltige anerkannte Bedeutung und damit dem Schüler die Gelegenheit zu lernen geben, die des Weibes Schwach— heit und des Mannes Kraft einen in der gleichen Stärke der Hingebung. Das Verhältnis beſteht wohl, aber es er⸗ mangelt der Spannkraft zur Sammlung in Innerlichkeit und zur Vereinigung in Einträchtigkeit. Die Verhältniſſe äußern ſich als daſeiend und doch als abweſend, nicht in Fülle, eher in einer gewiſſen ſchleppenden ſchläfrigen Unabgebrochenheit.

Man geſtatte mir, mit einem ganz einfachen Bilde zu er⸗ hellen, was ich meine. Ich kam einmal in eine Familie, die hatte eine Standuhr, deren Werk auf irgend eine Weiſe in Unordnung gekommen war. Aber die Unordnung äußerte ſich nicht dadurch, daß die Spirale auf einmal abſchnurrte, oder daß die Feder ſprang, noch daß ſie aufhörte zu ſchlagen;

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im Gegenteil fie fuhr fort zu ſchlagen, aber auf eine ſonderlich abſtrakt normale und doch verwirrende Weiſe. Sie ſchlug nicht zwölf Mal, wenn es zwölf Uhr war, und dann ein Wal, wenn es ein Uhr war, ſondern ſie ſchlug immer nur ein Mal mit einem beſtimmten Zwiſchenraum. Auf dieſe Weiſe ſchlug ſie den ganzen Tag hindurch und gab doch niemals den Glockenſchlag an. Und ſo iſt es in einer ermattenden Spannung: die Verhältniſſe beſtehen; mit einer abſtrakten Unabgebrochenheit, die den Bruch verhindert, äußert ſich da etwas, was man die Aeußerungen des Verhältniſſes nennen muß, und doch werden die Verhältniſſe nicht nur nicht prä⸗ ziſe ſondern nahezu ſinnlos angegeben. Das Täuſchende iſt das Beſtehen der Verhältniſſe, ihre Faktizität, das Ge⸗ fährliche iſt, daß gerade dies das heimliche Nagen der Ne= flerion begünſtigt. Denn gegen Aufruhr kann man Ge⸗ walt gebrauchen, für offenkundige Fälſchung iſt Strafe in Ausſicht, aber dialektiſche Geheimniskrämerei iſt ſchwierig auszurotten; da gehört ſchon ein verhältnismäßig feineres Ohr dazu, um der Reflexion lautloſe Bewegungen auf den Schleichwegen der Zweideutigkeit zu vernehmen.

Das Beſtehende beſteht, aber die Leidenſchaftsloſigkeit der Reflexion findet ihre Beruhigung darin, daß es eine Zweideutigkeit iſt. Man will nicht die Macht des Königs abgeſchafft haben, keineswegs, aber wenn man ſie nach und nach in eine Einbildung verwandeln könnte, ſo würde man mit Vergnügen Hurra vor dem König rufen. Man will nicht die Auszeichnung ſtürzen, keineswegs; aber wenn man zu gleicher Zeit ein Wiſſen befördern könnte, daß ſie eine Einbildung ſei ſo wollte man bewundern. Man will die ganze chriſtliche Terminologie beſtehen laſſen, aber unter der Hand wiſſen, daß nichts Entſcheidendes dabei gedacht

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zu werden braucht. Und man will ohne Reue fein, denn man reißt ja nichts nieder. Man möchte ebenſowenig einen gewaltigen König haben, wie einen energiſchen Freiheits⸗ helden, oder einen religiös Bevollmächtigten, nein man will ganz unſchuldig das Beſtehende beſtehen laſſen, aber in einem reflektierten Wiſſen mehr oder weniger um ſein Nichtbeſtehen wiſſen. Und jo möchte man ſtolz fein in der Einbildung, daß das Ironie ſei, recht als wäre der Iro— niker nicht gerade der im Geheimen Begeiſterte in einer negativen Zeit (gleichwie der Held der offenbar Begeiſterte iſt in einer poſitiven Zeit), recht als wäre der wahre Ironiker nicht das Opfer, da ja doch jener Großmeiſter damit endete, daß er mit dem Tode beſtraft wurde.

Die Reflexionsſpannung konſtituiert ſich zuletzt zum Prin⸗ zip, und wie in einer leidenſchaftlichen Zeit Begeiſterung das einende Prinzip iſt, ſo wird in einer leidenſchaftsloſen und ſtark reflektierten Zeit Neid das negativ einende Prin⸗ zip ſein. Das muß doch nicht gleich in ethiſcher Bedeutung als eine Beſchuldigung verſtanden werden, nein, die Idee der Reflexion, wenn man ſo ſagen darf, iſt: Neid, und der Neid iſt deshalb ein doppelter, iſt der ſelbſtiſche im Individuum, und dann wieder der der Umgebung gegen es. Der Neid der Reflexion im Individuum verhindert die pathetiſche Entſcheidung in ihm; und wollte fie ihm doch faſt glücken, dann hält der Reflexionswiderſtand feiner Umgebung es auf. Der Neid der Reflexion hält Willen und Kraft gleichſam gefangen. Erſt muß das Individuum den Kerker durchbrechen, in welchem es ſeine eigene Reflexion feſthält, und iſt ihm das geglückt, ſteht es doch noch nicht im Freien, ſondern in dem großen Gefängnisbau, den die Reflexion der Um: gebung errichtet, und hat durch das Reflexionsverhältnis

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in fi wieder ein Verhältnis zu jenem, von dem es nur veligiöje Innerlichkeit freimachen kann, wie ſehr es auch ſelber die Unwahrheit des Verhältniſſes durchſchauen mag. Aber daß es ein Gefängnis iſt, in dem die Reflexion das Individuum und die Zeit hält, daß es die Reflexion iſt, die es tut, und nicht Tyrannen und Geheimpolizei, nicht Prieſter und Ariſtokraten: das zu verſtehen verhindert die Reflexion aus aller Macht und hält die ſchmeichelnde Ein⸗ bildung aufrecht, daß die Reflexionsmöglichkeit etwas ganz anders Großartiges ſei als die armſelige Entſcheidung. Der ſelbſtiſche Neid fordert in der Form des Wunſches zu viel vom Individuum ſelber, und hindert es dadurch, er verzärtelt es wie einer ſchwachen Mutter Verliebtheit, denn der Neid auf ſich ſelber hindert das Individuum, ſich hinzugeben. Der Neid der Umgebung, an dem ja das Individuum wieder ſelber teil hat gegen die Andern, iſt in negativ⸗-kritiſchem Sinne neidiſch.

Aber je länger das hingeht, umſomehr wird ſich der Neid der Reflexion zum ethiſchen Reſſentiment konſtituieren. Ein⸗ geſperrte Luft entwickelt immer Gift, und ſo entwickelt die Eingeſperrtheit der Reflexion, wenn keine Handlung, keine Begebenheit auslüftet, das verdammenswerte Reſſentiment. Während die beſſeren Kräfte einander die Stange halten in einer Reflexionsſpannung, kommt die Erbärmlichkeit auf, ihre Verächtlichkeit wird ihr zum ſchützenden Privilegium werden, eben weil ſie ſich dadurch der Aufmerkſamkeit des Reſſentiments entzieht.

Uebrigens iſt es tief gegründet in der menſchlichen Na— tur, daß ſie nicht in einem fort ſich auf der Höhe halten und dabei bleiben kann zu bewundern, fie verlangt eine Abwechs⸗ lung. Selbſt die meiſt begeiſterte Zeit fordert deshalb einen

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Neſſentimentsſpaß gegen das Ausgezeichnete. Das iſt ganz in der Ordnung, und kann in Ordnung vor ſich gehen, wenn die Auszeichnung nach den Faſtnachtsſcherzen den Blick der Bewunderung wieder auf ſich zieht und unverändert geblieben iſt: denn ſonſt geht mit dem Spaß mehr verloren, als der Spaß wert war. So kann das Reſſentiment feinen Spielraum ſelbſt in einer begeiſterten Zeit finden. Ja iſt ſelbſt die Zeit weniger begeiſtert, wenn ſie nur noch die Kraft hat dem Reſſentiment Charakter zu geben, und mit ſich ſelber einig iſt, was ſein Ausdruck bedeutet, kann es ſeine wenn auch gefährliche Bedeutung haben. So war z. B. der Oſtrazismus in Griechenland ein Ausdruck für das Reffentiment, eine Art Gleichgewichtsnotwehr gegen das Ausgezeichnete. Man übte ihn aus, aber man war einig mit ſich ſelber, was ja dialektiſch im Begriffe liegt, daß der Oſtrazismus eine Auszeichnung war. Es könnte deshalb im Verhältnis zur Darſtellung einer etwas früheren Zeit in Griechenland im Sinne des Ariſtophanes ironiſch ſein, einen ganz unbedeutenden Wann durch Oſtrazismus mit der Verbannung beſtrafen zu laſſen. Dieſes Ironiſche wäre eine noch höhere Komik als die, die z. B. einen ſolchen Un⸗ bedeutenden ironiſch Herrſcher werden läßt, gerade weil die Verbannung durch Oſtrazismus ſchon der negative Aus⸗ druck für die Auszeichnung iſt; weshalb es eine noch höhere ironiſche Komik ſein würde, die Sache damit enden zu laſſen, daß das Volk den Verbannten zurückriefe weil es ihn nicht entbehren konnte, der nun ſo ein reines Rätſel für die Menſchen werden müßte, zwiſchen denen er in ſeinem Exil lebte, da die ja natürlich gar nichts Auszeichnendes an ihm entdecken konnten. In den Rittern ſtellt Ariſto⸗ phanes den vollkommenen Fäulniszuſtand dar, wo die Pöbel⸗

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haftigkeit damit endet, ſo wie man die Exkremente des Dalai Lama anbetet ſich ſelber im erſten beſten des Auswurfs anzubeten oder anbetend anzuſchauen, ein Ver⸗ hältnis, das innerhalb der Demokratie dem entſpricht, was innerhalb einer Monarchie die Kaiſerkrone zur Auktion ſtellen wäre. Aber wenn das Reſſentiment noch Charakter hat, iſt der Oſtrazismus eine negative Auszeichnung. Der Mann, der zu Ariſtides ſagte, daß er für deſſen Verbannung ſtimme, „weil er nicht dulden konnte, daß Ariſtides der einzige Ge⸗ rechte genannt werde“, er leugnete eigentlich nicht die Aus⸗ zeichnung des Ariſtides, aber er geſtand etwas über ſich ſelber, daß er nämlich anſtatt in der glücklichen Verliebt⸗ heit der Bewunderung, in der unglücklichen des Refjenti- ments ſich zu dem Ausgezeichneten verhalte, aber er ſetzte ihn nicht herunter.

Je mehr dagegen die Reflexion Oberhand gewinnt und die Indolenz begünſtigt, umſo gefährlicher wird das Reſ⸗ ſentiment, weil es nicht Charakter hat, ſich ſeiner eigenen Bedeutung ſelbſt bewußt zu werden, ſondern charakterlos und ſchleichend in Anbeſtändigkeit und Feigheit je nach den Umſtänden dieſelbe Aeußerung auf die verſchiedenſte Weiſe umerklärt, will, daß ſie Spaß ſein ſoll, und wenn es das mißglückt ſieht, daß ſie Beleidigung ſein ſoll, und wenn das mißglückt, daß ſie gar nichts ſein ſoll, will daß ſie ein Witz ſein ſoll, und wenn das nicht einſchlägt, daß ſie auch ſo nicht gemeint war, daß ſie ethiſche Satire ſei, aus der man ſich etwas machen ſoll, und wenn das mißglückt, daß ſie nichts war und ſich niemand etwas dar⸗ aus machen ſoll. Das Reſſentiment konſtituiert ſich zum Prinzip der Charakterloſigkeit, die von der Erbärmlichkeit her ſich dazu emporſchleichen will, etwas zu ſein, indem

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fie ſich beſtändig durch die Konzeſſion deckt, daß fie nichts ſei. Das Reſſentiment der Charakterloſigkeit verſteht nicht, daß das Ausgezeichnete das Ausgezeichnete iſt, es verſteht ſich ſelber nicht darin, es wenn auch negativ anzuerkennen, ſondern es will es am Boden haben, will das Ausgezeich⸗ nete erniedrigt haben, ſo daß es wirklich nicht mehr das Ausgezeichnete iſt; und das Reſſentiment richtet ſich ge— gen das Ausgezeichnete, das iſt, und gegen das, das auf⸗ kommen will.

Das ſich etablierende Reffentiment iſt die Nivel⸗ lierung, und während eine leidenſchaftliche Zeit vor⸗ wärts ſtürmt, erhebt und ſtürzt, aufrichtet und unterdrückt, tut eine reflektierte leidenſchaftsloſe Zeit das Gegenteil, ſie erſtickt und verhindert, ſie ni⸗ velliert. Vivellieren iſt eine ſtille, mathematiſch ab- ſtrakte Beſchäftigung, die gar kein Aufhebens macht. Wäh⸗ rend die aufbrauſende flüchtige Begeiſterung mißmutig ſelbſt ein Unglück wünſchen könnte, nur um des Daſeins Kräfte zu verſpüren, iſt ihrer Ablöſung, der Apathie, mit einer Störung nicht gedient, ſo wenig wie einem nivellierenden Ingenieur. Iſt ein Aufruhr in ſeinem Maximum wie der Ausbruch eines Vulkans, ſo daß man ſein eigenes Wort nicht hören kann; ſo iſt das Nivellement in ſeinem Maximum wie eine Totenſtille, über die ſich nichts erheben kann, ſondern alles ſinkt ohnmächtig in ſie hinab.

An der Spitze eines Aufruhrs kann ein einzelner Mann ſtehen, aber an der Spitze der Vivellierung kann kein ein⸗ zelner Mann ſtehen, denn fo würde er ja der Herrſcher werden und der Nivellierung entgangen ſein. Das einzelne Individuum kann in ſeinem ſtillen Kreis mitwirkſam an der Nivellierung ſein, aber dieſe ſelbſt iſt eine abſtrakte Macht,

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und die Vivellierung iſt der Sieg der Abſtraktion über die Individuen. Die Nivellierung in der modernen Zeit ent⸗ ſpricht in der Reflexion dem was im Altertum das Schickſal war. Das Altertum iſt dialektiſch in Richtung auf das Her⸗ vorragende (der einzelne Große und ſo die Menge, ein Freier und ſo Sklaven), das Chriſtentum iſt bis auf wei⸗ teres dialektiſch in Richtung auf Repräſentation (die Mehr⸗ zahl ſchaut ſich ſelber im Repräſentierenden an, wird frei im Bewußtſein, daß ſie es iſt, die repräſentiert wird, in einer Art Selbſtbewußtſein); die Gegenwart iſt dialektiſch in Nich⸗ tung auf Gleichheit, und deren verfehlte konſequen⸗ teſte Durchführung iſt das Nivellement, als die negative Einheit der negativen Gegenſeitigkeit der Individuen. Jeder wird leicht ſehen, daß die Nivellierung ihre tiefe Bedeutung in der Uebermacht der Generationskategorie über die Individualitätskategorie hat. Während im Altertum die Menge der Individuen gleichſam dazu da war, den Preis zu beſtimmen, wie viel das ausgezeichnete Indivi⸗ duum wert war, fo iſt der Münzfuß heute fo verändert, daß gleichmäßig ungefähr fo und fo viele Menfchen auf ein Individuum gehen, ſo daß es bloß gilt, ſich die gehörige Anzahl zu ſichern ſo hat man Bedeutung. Der Einzelne in der Menge bedeutete im Altertum gar nichts, der Ausgezeichnete bedeutete ſie alle; die Gegenwart ten⸗ diert zu der mathematiſchen Gleichheit, daß ſo ungefähr gleichmäßig durch alle Stände ſo und ſo viele auf ein Indi⸗ viduum gehen. Der Ausgezeichnete durfte ſich alles erlauben, die Einzelnen in der Wenge gar nichts, jetzt verſteht man, daß ſo und ſo viele auf ein Individuum gehen, und ganz kon⸗ ſequent zählt man ſich zuſammen (man nennt das ja freilich ſich vereinigen, aber das iſt eine Galanterie) bei der unbe—

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deutendſten Gelegenheit. Nur um einen Einfall zu re— aliſieren, zählt man ſich einige Mann zuſammen, und ſo tut man es: fo darf man es tun. Daher kommt es ſchließ— lich, daß ſelbſt ein vorzugsweiſe Begabter ſich doch nicht von der Reflexion frei machen kann, weil er bald im Be⸗ deutungsloſeſten ſich als ein Bruchteil bewußt wird, und um die religiöſe unendliche Befreiung kommt. Selbſt wenn eine Vereinigung Mehrerer den Mut hätte, dem Tod ent⸗ gegen zu gehen: damit wäre in unſerer Zeit noch nicht geſagt, daß jeder Einzelne Mut dazu hätte, denn das, was der Einzelne mehr als den Tod fürchtete, wäre das Re— flexionsurteil über ihn, der Reflexionseinſpruch gegen ihn, daß er als Einzelner etwas wagen wollte. Der Einzelne gehört nicht Gott, nicht ſich ſelber, nicht der Geliebten, nicht ſeiner Kunſt, nicht ſeiner Wiſſenſchaft, nein wie ein Leibeigener einem Gut gehört, ſo wird der Einzelne ſich bewußt in einem und allem einer Abſtraktion zu gehören, unter die ihn die Reflexion ordnet. Wenn eine Vereinigung Mehrerer in unſerer Zeit fi dazu entſchließen könnte, jeder für ſich, ihr ganzes Vermögen zum einen oder an— deren wohltätigen Zweck herzugeben, daraus folgte nicht, daß der Einzelne ſich dazu entſchließen könnte, und wieder nicht weil er entſchloſſen wäre in Hinſicht auf den Verzicht, ſon⸗ dern weil er das Reflexionsurteil noch viel mehr fürchtete als die Armut. Ob zehn ſich einig werden könnten einzuſtehen für die volle ungeſchmälerte Liebe oder das durch keine läh— mende Rückſicht eingeſchränkte Recht der Begeiſterung, dar— aus folgte nicht, daß jeder von den Zehn dazu imſtande wäre, denn höher noch als der Liebe Seligkeit und der Begeiſterung Zeugnis in ihrem Geiſt würden ſie doch zweideutig das Reflerionsurteil lieben deshalb müßten fie ja auch zehn

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fein bei einer Sache, bei der es ein Widerſpruch iſt mehr als einer zu ſein. Das vergötterte poſitive Prinzip des Sozialis⸗ mus in unſerer Zeit iſt gerade das Verzehrende, das De⸗ moraliſierende, das in einer Reflexions⸗Sklaverei ſelbſt Tu⸗ genden zu vitia splendida macht. Und woher kann das kommen wenn nicht daher, daß an der religiöſen Indi⸗ vidualitäts⸗Ausſonderung vor Gott und der Verantwortung in der Ewigkeit vorbeigegangen wird. Wenn hier die Schrecken beginnen, ſucht man Troſt in Kompagnie, und ſo fängt die Reflexion das Individuum für ſein ganzes Leben. Und die, die auch nicht einmal den Beginn dieſer Kriſe wahrnahmen, ſie gehen ohne weiteres im Wee hältnis unter. f

Das Nivellement iſt nicht eines Einzelnen S ſondern ein Reflexionsſpiel in der Hand einer abſtrakten Macht. Wie man die Diagonale im Parallelogramm der Kräfte berechnet, jo kann man das Geſetz des Vivellements berechnen. Denn der Einzelne, der einige nivelliert, wird ſelber wieder mitgenommen, und ſo weiter. Während des⸗ halb der Einzelne ſelbſtſüchtig zu wiſſen ſcheint, was er tut, muß man von ihnen allen zuſammen ſagen: ſie wiſſen nicht was ſie tun, denn wie in der Einträchtigkeit der Begeiſterung ein Mehr herauskommt, das nicht das der Einzelnen iſt, ſo kommt hier auch ein Mehr heraus. Wan beſchwört einen Dämon herauf, den kein Einzelner bewältigen kann; und während der Einzelne im kurzen Augenblick der Vivellie⸗ rungsluſt ſelbſtiſch die Abſtraktion genießt, unterſchreibt er zugleich ſeinen eigenen Untergang. Das Vorwärtsſtür⸗ men des Begeiſterten kann mit Untergang enden, aber der Sieg des Vivellierenden iſt eo ipso ſein Untergang. Die Skepſis der Nivellierung kann keine Zeit hemmen, die

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Zeit, unfere Zeit alſo auch nicht, denn in dem Augenblick, wo ſie ihr Einhalt tun will, wird dieſe wieder ihr Geſetz entwickeln. Sie kann nur dadurch aufgehalten werden, daß das Individuum in individueller Ausſonderung die Uner⸗ ſchrockenheit der Religioſität gewinnt. Ich ſah einmal einer Rauferei zu, bei der drei Menſchen auf ſchändliche Weiſe einen Vierten mißhandelten. Der Haufe ſtand herum und ſah unwillig zu; Ausdrücke des Aergers und Murren be= ginnen die Handlung in Fluß zu bringen: es ſammeln ſich ein paar aus der Menge, packen einen der Angreifer, werfen ihn zu Boden u. ſ. w. Alſo die Rächer entwickelten das⸗ ſelbe Geſetz wie die Angreifer. Wenn es mir geſtattet iſt, meine geringe Perſon mit anzubringen, will ich die Geſchichte zu Ende erzählen. Ich trat hinzu und ſuchte dialektiſch einem der Rächer das Inkonſequente in ihrem Betragen auseinander zu ſetzen, aber es ſtellte ſich heraus, daß es ihm ganz unmöglich war, ſich auf ſolches einzu⸗ laſſen, er wiederholte nur immer: das hat er redlich ver⸗ dient, ein ſolcher Schlingel, zu dritt gegen einen. Das Komiſche liegt nahe beſonders für den, der den Anfang nicht geſehen hatte und alſo einen Mann über einen andern ſagen hörte: daß er (der einzelne) zu dritt war gegen einen, und das gerade in dem Augenblick hörte, in dem das Ent⸗ gegengeſetzte der Fall war: daß ſie zu dritt waren gegen ihn. Das Erſte wäre komiſch durch den Widerſpruch im ſelben Sinn wie „als der Wächter zu einer einzelnen Perſon ſagte: wollen Sie ſo gut fein und auseinander- gehen“; das Zweite wäre komiſch durch den Selbſtwider⸗ ſpruch. Was ich dagegen verſtand war, daß es noch am beſten ſei die Hoffnung, dieſe Skepſis zu beenden, aufzu⸗ geben, damit ſie nicht gegen mich fortgeſetzt werde. Kein

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einzelner Mann (der Ausgezeichnete in Richtung auf Hervor⸗ ragen und die Dialektik des Schickſals) wird der Abſtrak⸗ tion der Nivellierung Einhalt tun können, denn ſie iſt ein negativ Höheres, und die Zeit der Helden iſt vorbei. Keine Kongregation wäre imſtande, die Abſtraktion der Vivellie⸗ rung aufzuhalten, weil die Kongregation ſelbſt durch den Zuſammenhang der Reflexion im Dienſte der Vivellierung iſt. Auch nicht die Individualität der Nationalitäten wird ſie aufhalten können, denn die Abſtraktion der Nivellie⸗ rung reflektiert auf eine höhere Negativität: die reine Menſchheit. Die Abſtraktion der Nivellierung, dieſe Selbſtanzündung des Wenſchengeſchlechts, veranlaßt durch die Friktion, die entſteht, wenn die individuelle Innerlich⸗ keits-Ausſonderung in Religioſität ausbleibt, wird beſtehen bleiben wie man das von einem Paſſat ſagt, der Alles ver⸗ zehrt, aber durch den die Individuen, jedes für ſich, wieder religiös erzogen werden können, ihnen im höchſten Sinn dazu verholfen werden kann, im examen rigorosum der Nivellierung die Weſentlichkeit der Religioſität in ſich ſelber zu gewinnen. Für den Jüngeren, der, wie feſt er auch für ſeine Perſon an dem hängt, was er als das Ausgezeichnete bewundert, von Anfang an faßt, daß die Nivellierung das iſt, was der ſelbſtiſche Einzelne und das ſelbſtiſche Geſchlecht zum Böſen denken, aber auch was für den Einzelnen, jeden beſonders, wenn er es nur in Aufrichtigkeit mit Gott will, der Ausgangspunkt für das höchſte Leben ſein kann, für ihn wird es in Wahrheit bildend ſein, in der Zeit der Vivellie⸗ rung zu leben. Die Gegenwart wird für ihn im höchſten ö Sinn religiös entwickelnd und zugleich äſthetiſch und intel⸗ lektuell ausbildend ſein, indem das Komiſche ſich abſolut geltend machen wird. Denn das höchſte Komiſche iſt gerade,

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daß das einzelne Individuum ohne irgend eine Zwiſchen⸗ beſtimmung unter die unendliche Abſtraktion der „reinen Menſchheit“ hingeführt werden ſoll, indem alle Individu- alitäts⸗ Konkretionen der Organiſation, die durch die Relati- vität das Komiſche temperieren und durch relatives Pathos die Individuen ſtärken könnten, verzehrt ſind. Aber das iſt wieder der Ausdruck dafür, daß die Rettung nur in der Weſentlichkeit der Religioſität im einzelnen Individuum liegt. Und begeiſternd für den Einzelnen wird es ſein zu faſſen, daß gerade der Irrtum dem Einzelnen, jedem beſon⸗ ders, wenn er es nur hochgemut will, den Zugang zum Höchſten öffnet. Aber die Nivellierung muß beſtehen bleiben, ſie gehört dazu, wie das Aergernis in die Welt kommen muß, aber weh dem, durch den es herein kommt.

Es wurde oft genug gejagt, daß eine Reformation da⸗ mit beginnen ſolle, daß jeder ſich ſelber reformiere; aber das iſt jo nicht zugegangen, denn die Reformationsidee hat einen Helden erzeugt, der vielleicht teuer genug von Gott ſeine Beſtallung als Held erkauft hat. Indem ſie ohne wei⸗ teres ſich ihm anſchließen, bekommen die Individuen für billigen Preis das teuer Erkaufte, aber ſie bekommen auch nicht das Höchſte. Die Abſtraktion der Vivellierung da— gegen iſt ein Prinzip, das gleich dem ſcharfen Oſtwind ſich nicht mit dem einzelnen Individuum in irgend ein intimeres Verhältnis einläßt, ſondern nur in ein Abſtraktionsverhält⸗ nis, das gleichmäßig für alle gilt. Kein Held leidet da für Andere und hilft Anderen, die Nivellierung wird ſelbſt zum ſcharfen Zuchtmeiſter, der ſich der Erziehung annimmt. Und der, der das Maximum aus der Erziehung lernt und das Maximum wird, er wird nicht der Ausgezeichnete, der Held, der Hervorragende, das verhindert die Nivellierung,

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die konſequent iſt bis zum Aeußerſten, und er verhindert es

ſebſt, weil er die Bedeutung der Vivellierung erfaßt hat, nein er wird nur ein weſentlicher Menſch im vollen Sinn der Gleichheit. Das iſt die Idee der Religioſität. Aber die Erziehung iſt ſtreng, und die Ausbeute anſcheinend ſehr gering; anſcheinend, denn wenn das Individuum nicht ler⸗ nen will, in der Weſentlichkeit der Religioſität vor Gott ſich mit ſich ſelber zu begnügen, ſich damit zu begnügen, anſtatt über die Welt zu herrſchen über ſich ſelber zu herr⸗ ſchen, ſich zu begnügen, als Prieſter ſein eigener Zuhörer, als Verfaſſer fein eigener Leſer zu fein uſw., wenn es nicht lernen will, ſich für dieſes Höchſte zu begeiſtern, weil es die Gleichheit vor Gott ausdrückt und die Gleichheit mit Allen: ſo entwiſcht es nicht der Reflexion, ſo erlebt es vielleicht, nach dem Maße ſeiner Begabung, einen täuſchenden Augen⸗ blick, in dem es glaubt, es ſei es, das nivelliere, bis es unter der Nivellierung hinſinkt. Es hilft nichts einen Holger Danske oder einen Wartin Luther zu verheißen und zu beſchwören, deren Zeit iſt vorbei, und es iſt doch im Grunde nur die Bequemlichkeit der Individuen, die ſo etwas wünſcht, der Endlichkeit Ungeduld, die etwas billig aus zweiter Hand haben will ſtatt des Höchſten, das teuer aus erſter Hand gekauft wird. Es hilft nichts, Verein auf Verein zu gründen, denn negativ iſt da etwas Höheres eingeſetzt, wenn auch der kurzſichtige Vereinsmann das nicht ſehen kann. Das Individualitätsprinzip in ſeiner unmittelbaren und ſchönen Formation präfiguriert die Generation durch den Ausgezeichneten, den Hervorragenden, und läßt die unter⸗ geordneten Individualitäten ſich um den Repräſentanten ſchließen und gruppieren. Das Individualitätsprinzip in ſeiner ewigen Wahrheit gebraucht die Abſtraktion und Gleich⸗

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heit der Generation als Nivellierendes und entwickelt da⸗ durch das Individuum mit deſſen eigenem Witwirken reli⸗ giös zu einem weſentlichen Menſchen. Denn ſo ohnmächtig wie die Nivellierung gegen das Ewige iſt, ſo übermächtig iſt ſie gegen jedes Proviſorium. Die Reflexion iſt eine Schlinge, in der man ſich fängt, aber durch der Religio⸗ ſität begeiſterten Sprung wird das Verhältnis ein anderes, und ſie wird zur Schlinge, die einen in der Ewigkeit Arme wirft. Und die Reflexion iſt und bleibt der hartnäckigſte Creditor im Daſein; liſtig hat ſie bis jetzt alle möglichen Lebensanſchauungen aufgekauft, aber der weſentlichen Reli⸗ gioſität ewige Lebensanſchauung kann ſie nicht kaufen, da⸗ gegen kann ſie locken mit ſchimmernden Blendwerken von all dem Andern, entmutigen mit Reminiszenzen an all das Frühere. Aber durch den Sprung ins Tiefe lernt man ſich ſelbſt helfen, lernt man alle andern ſo hoch lieben wie ſich ſelbſt, ob man auch noch ſo ſehr beſchuldigt wird der An⸗ maßung und des Stolzes daß man ſich nicht helfen laſſen will, oder des Egoismus daß man nicht hinterliſtig andere betrügen will, indem man ihnen hilft: indem man ihnen dazu hilft des Höchſten verluſtig zu gehen. Will einer ſagen, daß, was ich hier vorgebracht habe, jeder wiſſe und jeder ſagen könne, ſo iſt meine Antwort dieſe: umſo beſſer, ich wünſche keine Auszeichnung, ich habe nichts dagegen, daß jeder es weiß, es ſei denn, dies, daß jeder es weiß und jeder es ſagen kann, ſollte bedeuten, daß es mir genom⸗ men und in einer negativen Gemeinſchaft deponiert werden ſoll. Bekomme ich bloß die Erlaubnis, es zu behalten, ſo verliert es für mich nicht an Wert dadurch, daß jeder es weiß.

Im Grund hat die moderne Zeit lange zur Nivellierung tendiert durch mancherlei Umwälzungen, welche doch alle

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nicht die Nivellierung waren, weil fie alle nicht abſtrakt genug waren, ſondern eine Wirklichkeitskonkretion beſaßen. Annäherungsweiſe kann dadurch nivelliert werden, daß der Hervorragende gegen den Hervorragenden herrſcht, ja daß beide geſchwächt werden; annäherungsweiſe kann dadurch nivelliert werden, daß ein Hervorragender durch einen an⸗ deren neutraliſiert wird; dadurch, daß die Vereinigung der an ſich Schwächeren ſtärker wird als der einzelne Hervorra⸗ gende; annäherungsweiſe kann nivelliert werden durch einen einzelnen Stand, z. B. die Geiſtlichkeit, die Bourgeoiſie, den Bauernſtand, das Volk ſelbſt: aber all das ſind doch nur Bewegungen der Abſtraktion innerhalb von Individu⸗ alitätskonkretionen.

Damit die Nivellierung eigentlich zuſtande kommen ſoll, muß erſt ein Phantom zuwege gebracht werden, ihr Geiſt, eine ungeheure Abſtraktion, ein allumfaſſendes Etwas, das Nichts iſt, eine Lufterſcheinung dieſes Phantom heißt Publikum. Nur in einer leidenſchaftsloſen, aber re⸗ flektierten Zeit kann dieſes Phantom ſich entwickeln mit Hilfe der Preſſe, wenn dieſe ſelber zu einer Abſtraktion wird. In begeiſterten, in leidenſchaftlich tumultuariſchen Zeiten, ſelbſt wenn ein Volk die unfruchtbare wüſte Idee, alles zu ſchleifen und niederzureißen, realiſieren will: ſo iſt da doch kein Publikum. Da find Parteien und da iſt Kon⸗ kretion. Die Preſſe wird in ſolchen Zeiten einen konkreten Charakter je nach der Zerſplitterung annehmen. Aber wie ſtillſitzende Profeſſioniſten beſonders der Entwicklung von phantaſtiſchem Sinnesbetrug ausgeſetzt ſind, ſo wird eine leidenſchaftsloſe, ſtillſitzende, reflektierte Zeit, wenn die Preſſe das einzige ſein ſoll, das ſchwächlich eine Art Leben in dieſe

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Schläfrigkeit bringen muß, dieſes Phantom erzeugen. Das Publikum iſt der eigentliche Nivellierungsmeiſter, denn wenn nur annäherungsweiſe nivelliert wird, geſchieht es durch irgend etwas, aber das Publikum iſt ein ungeheures Nichts. Das Publikum iſt ein Begriff, der im Altertum gar nicht aufkommen konnte, weil das Volk ſelber en masse in corpoıe in der Situation der Handlung auftreten, die Verantwortung dafür tragen mußte, was der Einzelne aus ſeiner Witte anrichtete, während wiederum der Einzelne als dieſer Be— ſtimmte zur Stelle ſein und ſich dem Standrecht des Augen⸗ blicks in Beifall oder Wißbilligung unterwerfen mußte. Erſt wenn kein kräftiges Zuſammenleben der Konkretion Fülle gibt, wird die Preſſe dieſes Abſtraktum: das Publikum bilden können, das aus unwirklichen Einzelnen beſteht, die ſich niemals vereinigen oder vereinigen können in der Gleich— zeitigkeit irgend einer Situation oder Organiſation, und das doch als ein Ganzes feſtgehalten wird. Das Publikum iſt ein Heer, zahlreicher als alle Völker zuſammen, aber dieſes Heer kann niemals gemuſtert werden, ja es iſt auch nicht einmal imſtand einen einzigen Repräſentanten zu haben, weil es ſelber eine Abſtraktion iſt. Und deſſenungeachtet wird das Publikum, wenn die Zeit leidenſchaftslos und reflektiert iſt und alles Konkrete auswiſcht, zum Ganzen, das Alle umfaſſen ſoll. Aber dieſes Verhältnis iſt gerade wieder der Ausdruck dafür, daß der Einzelne auf ſich ſelber angewieſen iſt.

In der Gleichzeitigkeit des wirklichen Augenblicks und der wirklichen Situation mit den Wirklichen, von denen jeder etwas iſt, hat der Einzelne das Unterſtützende. Aber des Publikums Daſein bildet keine Situation und keine Vereinigung. Der Einzelne, der lieſt, iſt ja nicht

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Publikum, und fo leſen nach und nach viele Einzelne, viel⸗ leicht alle Einzelne, aber da iſt keine Gleichzeitigkeit. Das Publikum kann Jahr und Tag brauchen, um gleichſam geſammelt zu werden, und wenn es ſo geſammelt iſt, iſt es doch nicht da. Die Abſtraktion, die die Individuen paralogiſtiſch bilden, ſtößt ganz richtig die Individuen von ſich ab anſtatt ihnen zu helfen. Der, welcher in der Gleich- zeitigkeit des wirklichen Augenblicks und der wirklichen Si⸗ tuation mit den Wirklichen ſelbſt keine Meinung hat, nimmt dieſelbe Meinung wie die Wajorität an, oder iſt er ſtreit⸗ barer, wie die Winorität. Aber die Wajorität und die Minorität ſind wohlverſtanden wirkliche Menſchen, und darin liegt das Unterſtützende im Zuſammenhalt mit ihnen. Das Publikum dagegen iſt eine Abſtraktion. Dieſelbe Meinung anzunehmen wie dieſe und dieſe beſtimmten Wenſchen be= deutet, daß man weiß, daß ſie denſelben Gefahren unter⸗ worfen ſein wollen wie man ſelbſt, daß ſie mit einem irren wollen, wenn die Meinung ein Irrtum iſt uſw. Aber die⸗ ſelbe Meinung wie das Publikum annehmen zu wollen iſt ein trügeriſcher Troſt, denn das Publikum iſt nur da in ab- stracto. Während deshalb keine Wajorität je fo ſicher war das Recht und den Sieg zu behalten wie das Publikum es iſt, ſo iſt das nur wenig tröſtlich für den Einzelnen, denn das Publikum iſt ein Phantom, das irgend eine per- ſönliche Annäherung nicht erlaubt. Wenn einer heute die Meinung des Publikums annimmt und morgen ausge⸗ pfiffen wird, ſo wird er vom Publikum ausgepfiffen. Eine Generation, ein Volk, eine Volksverſammlung, eine Ge⸗ meinde, ein Mann haben doch eine Verantwortung dadurch daß ſie etwas find, können ſich ſchämen, wenn ſie unbe- ſtändig und treulos ſind, aber Publikum bleibt Publikum.

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Ein Volk, eine Verſammlung, ein Menſch können fich fo ver— ändern, daß man ſagen muß: ſie ſind nicht mehr dieſelben; aber das Publikum kann gerade das Entgegengeſetzte werden und iſt doch dasſelbe iſt Publikum. Aber eben durch dieſe Abſtraktion und dieſe abſtrakte Zucht wird das Indivi— duum gebildet (ſoweit es nicht ſchon durch ſeine eigene Innerlichkeit gebildet iſt), wenn es nicht untergeht, im höchſten Sinn der Religioſität ſich mit ſich ſelbſt und feinem Gottesverhältnis zu begnügen, an Stelle der Einigkeit mit dem Publikum, das alle die relativen Individualitäts-Kon⸗ kretionen verzehrt, die Einigkeit mit ſich ſelber zu ſubſtituie⸗ ren, anſtatt zu zählen und zu zählen in ſich ſelber vor Gott Ruhe zu finden. Und das wird der abſolute Unterſchied zwiſchen der neuen und der alten Zeit ſein: daß das Totale nicht die Konkretion iſt, die unterſtützt, die den Einzelnen ausbildet, ohne ihn doch abſolut zu entwickeln, ſondern eine Abſtraktion iſt, die in ihrer abſtrakten Gleichheit abſtoßend ihm dazu hilft, abſolut gebildet zu werden wenn er nicht umkommt. Das Troſtloſe im Altertum war, daß der Aus⸗ gezeichnete war, was die andern nicht ſein konnten, das Begeiſternde wird ſein, daß der, der religiös ſich ſelber gewann, nur iſt, was alle ſein können.

Das Publikum iſt nicht ein Volk, nicht eine Generation, nicht ein Zeitalter, nicht eine Gemeinde, nicht eine Geſell— ſchaft, nicht dieſe beſtimmten Wenſchen, denn alles dies iſt nur durch die Konkretion das, was es iſt; ja nicht ein einziger von denen, die zum Publikum gehören, iſt weſentlich engagiert; einige Stunden im Tag gehört er vielleicht mit zum Publikum, nämlich in den Stunden, in denen er nichts iſt, denn in den Stunden, in denen er etwas Be-

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ſtimmtes iſt, gehört er nicht zum Publikum. Gebildet aus ſolchen Einern, aus den Einzelnen in den Augenblicken, in denen ſie nichts ſind, iſt das Publikum ein ungeheures Etwas, das abſtrakte Dede und Leere, das Alle und Keiner iſt. Aber aus demſelben Grund kann jeder ſich anmaßen ein Publikum zu haben, und wie die römiſche Kirche chimä⸗ riſch ſich ausbreitete indem fie Biſchöfe in partibus infi- delium ernannte: ſo iſt das Publikum etwas, das jeder, ſelbſt ein betrunkener Matroſe, ſich aneignen kann, und der betrunkene Watroſe hat dialektiſch konſequent abſolut das⸗ ſelbe Recht dazu wie der am meiſten Ausgezeichnete, abſolut das Recht, alle dieſe vielen vielen Nullen ſeiner Einzahl voran zu ſetzen. Das Publikum iſt alles und nichts, iſt die gefährlichſte aller Mächte und die nichtsſagendſte; man kann zu einer ganzen Nation im Namen des Publikums reden, und doch iſt das Publikum weniger als ein einzi⸗ ger, noch ſo geringer, wirklicher Menſch. Die Beſtimmung Publikum iſt das Blendwerk der Reflexion, das mit Ta⸗ ſchenſpielerkünſten die Individuen eingebildet macht, weil jedes ſich dieſes ungeheure anmaßen kann, im Vergleich mit dem die Wirklichkeits-Konkretionen armſelig erſcheinen, das Publikum iſt das Märchen der Verſtandeszeit, das die Einzelnen phantaſtiſch zu mehr macht, als zu Königen über ein Volk“); aber das Publikum iſt auch die grauſame Abſtraktion, durch welche die Individuen religiös erzogen werden ſollen oder untergehen.

Die Abſtraktion der Preſſe (denn ein Blatt, eine Zeitung find keine ſtaatsbürgerliche Konkretion und nur in abſtraktem

) Zum Glück habe ich als Verfaſſer niemals irgend ein Publikum geſucht oder gehabt, ſondern mich froh mit „jenem Einzelnen“ begnügt, weshalb ich ja auf Grund dieſer Eingeſchränktheit fait zu einem Sprich⸗ wort geworden bin.

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Sinn ein Individuum) im Verein mit der Leidenſchafts⸗ loſigkeit und Reflektiertheit der Zeit erzeugt das Phantom der Abſtraktion: Publikum, das das eigentlich Nivellierende if. Auch dies kann, abgeſehen von ſeiner negativen Bedeu- tung für die Religiofität, noch eine andere haben. Aber je weniger Idee in einer Zeit iſt, je mehr ſie, ermattet durch aufbrauſende Begeiſterung, ſich in Indolenz wieder ausruht, wenn wir uns dazu noch denken wollten, daß die Preſſe ſchwächer und ſchächer würde, weil keine Begebenheit, keine Idee die Zeit ergreifen, deſto leichter wird die Nivellierung zu einer verderblichen Luſt, zum Sinnenreiz, der einen Augen⸗ blick kitzelt und nur das Böſe ſchlimmer macht, und die Be— dingung der Rettung ſchwieriger und des Untergangs Wahr⸗ ſcheinlichkeit größer. Und hat man oft die Demoraliſation der Einzelherrſchaft geſchildert, den Verfall revolutionärer Zeiten, ſo iſt eines leidenſchaftsloſen Zeitalters Verfall etwas ebenſo Verderbliches, wenn auch infolge der Zweideutigkeit minder Auffallendes. Und darüber nachzudenken kann des⸗ halb wohl ſein Intereſſe und ſeine Bedeutung haben. Mehr und mehr Einzelne werden in der Weichlichkeit der Indolenz darnach trachten, zu nichts zu werden um Publikum zu werden, dieſes abſtrakte Ganze, das gebildet iſt auf die lächer— liche Weiſe, daß der Teilnehmer den dritten Wann ſpielt. Dieſe indolente Menge, die ſelber nichts verſteht und ſelber nichts tun will, dieſes Galeriepublikum ſucht nun einen Zeitvertreib, und gibt ſich der Einbildung hin, daß alles, was einer tut, geſchehe, damit es etwas zum Schwätzen bekomme. Die Indolenz ſitzt vornehm mit übergeſchlagenen Beinen, und jeder, der arbeiten will, der König und der Beamte und des Volkes Lehrer und der tüchtigere Journaliſt und der Dichter und der Künſtler, alle werden gleichſam vorgeſpannt,

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um dieſe Indolenz vorwärts zu ſchleppen, die vornehm glaubt, daß die andern die Gäule ſeien. Wollte ich mir dieſes Pub⸗ likum als eine Perſon denken (denn wenn auch einzelne Beſſere momentweiſe zum Publikum gehören, ſie haben doch in ſich ſelber eine organiſierende Konkretion, die fie feſt⸗ hält, ſelbſt wenn fie nicht das Höchſte der Religiofität ge⸗ winnen), ſo würde ich am eheſten an den einen oder anderen römiſchen Kaiſer denken, eine große, wohlgenährte Figur, die an Langeweile leidet, und deshalb bloß des Gelächters Sin⸗ neskitzel wünſcht, denn des Witzes göttliche Gabe iſt nicht ir⸗ diſch genug. So ſchlendert alſo dieſe Perſon zur Abwechslung herum, mehr indolent als böſe, aber negativ herrſchſüchtig. Jeder, der die Alten geleſen hat, weiß, auf wie viele Dinge ein Kaiſer kommen konnte, um ſich die Zeit zu verkürzen. Da hält ſich denn das Publikum einen Hund zum Ver⸗ gnügen. Dieſer Hund iſt die literariſche Verächtlichkeit.“ Zeigt ſich ein Beſſerer, vielleicht ſogar ein Ausgezeichneter, ſo wird der Hund auf ihn gehetzt, und der Spaß beginnt. Der biſſige Hund reißt ihm die Rockſchöße herunter, erlaubt ſich alle Unarten und Unverſchämtheiten bis das Publikum deſſen müde wird und ſagt: jetzt habe ich genug davon. Da hat das Publikum nivelliert. Der Beſſere, der Stärkere iſt mißhandelt, und der Hund, ja der bleibt ein Hund, den das Publikum ſelbſt verachtet. Es wurde alſo durch ein Drittes nivelliert, das nichtsſeiende Publikum nivellierte durch ein Drittes, das infolge ſeiner Verächtlichkeit ſchon mehr als nivelliert war und weniger als Nichts. Und das Publikum ift oͤhne Reue, denn es iſt ja nicht das Pub⸗ likum es war ja der Hund; wie man zu den Kindern ſagt: die Katze war's. Und das Publikum iſt ohne Neue,

5 Das Witzblatt „Der Korſar“. (Anmerkung des Ueberſetzers).

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denn es war ja keine weſentliche Heräbſetzung es war bloß ein kleiner Spaß. Wenn nämlich das Werkzeug der Nivellierung eine ausgezeichnete Tüchtigkeit geweſen wäre, ſo wäre das indolente Publikum genarrt geweſen, denn ſo wäre ja das Werkzeug ihm wieder in den Weg getreten; aber wenn man das Beſſere durch die Verächtlichkeit nieder hält, und die Verächtlichkeit durch ſie ſelber: ſo heißt das, mit Null gegen Null quitt ſein. Und das Publikum will ohne Reue ſein, denn es war es ja eigentlich nicht, das den Hund hielt man abonnierte bloß; es hetzte ihn auch nicht direkt, es pfiff auch ſozuſagen nicht nach ihm; im Fall eines Prozeſſes würde das Publikum ſagen: der Hund gehört mir gar nicht, er iſt herrenlos; und im Falle daß der Hund aufgegriffen und in die Veterinärſchule ge= bracht würde um tot geſchlagen zu werden, könnte das Pub— likum ſogar ſagen: es war wirklich gut, daß der eklige Hund umgebracht wurde, das haben wir alle gewünſcht ſogar die Abonnenten.

Vielleicht iſt da einer, der ſich in eine ſolche Lage hinein⸗ verſetzt, geneigt ſeine Aufmerkſamkeit dem Beſſeren, der die Mißhandlung erlitt, zu ſchenken und zu meinen, daß ihm ein großes Unglück widerfuhr. Dieſe Anſicht kann ich durchaus nicht billigen, denn der, der des Höchſten teil- haftig werden will, für ihn iſt es gerade gut, ſolches durch⸗ zumachen, und er müßte es ſich eher wünſchen, ob man ſich auch über das, was ihm zuſtößt, empören kann. Nein, das Furchtbare iſt etwas anderes, es iſt der Gedanke an die vielen Menſchenleben, die verſpielt find, oder es leicht werden. Ich will nicht einmal von den Verlorenen reden, oder den doch bis zur Verlorenheit Irregeführten, die für Geld die Rolle des Hundes ſpielen, ſondern von den vielen

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Unbefejtigten, Leichtſinnigen, Sinnlichen, die in vornehmer Indolenz keinen tieferen Eindruck vom Daſein bekommen als dieſen ſinnlos grinſenden, von all den Toren die in neue Verſuchung geführt werden, indem ſie in ihrer Be⸗ ſchränktheit ſogar fich ſelber wichtig vorkommen dadurch daß ſie mit den Angegriffenen Witleid haben, ohne zu 4 faſſen, daß bei einem ſolchen Verhältnis die Angegriffenen immer die Stärkſten ſind, ohne zu faſſen, daß hier mit furcht⸗ 4 barem und doch ironiſchem Nachdruck gilt: Weinet nicht über mich, ſondern weinet über euch ſelbſt. 7

Dieſes Verhältnis iſt die niedrigſte Nivellierung, denn dieſe richtet ſich immer nach der Zahlengröße, auf die alle reduziert werden ſollen; ſo iſt das ewige Leben auch eine f Art Nivellierung, und doch iſt es nicht ſo, weil hier die N Einheit dieſe iſt: in religiöfem Sinn weſentlicher Menſch zu ſein.

DI dieſen dialektiſchen Kategorie-Beſtimmungen und > deren Konſequenzen, dieſe mögen nun in dem gege⸗ benen Augenblick faktiſch ſein oder nicht, von dieſem dialek⸗ tiſchen Aufs⸗Kornnehmen der Gegenwart gehe ich jetzt dazu über, die konkreteren Prädikate des häuslichen und Um⸗ | gangslebens zu erreichen. Es iſt die Schattenſeite, die ſich hier zeigen wird, und wenn auch deren Tatſächlichkeit ſich nicht leugnen läßt, ſo iſt doch auch gewiß, daß ſo wenig wie die Reflexion ſelbſt das Böſe iſt, ſo gewiß muß auch eine ſtark reflektierte Zeit ihre Lichtſeite haben, gerade weil ſtarke Reflektiertheit eine höhere Bedeutungsfülle bedingt als un⸗ mittelbare Leidenſchaft; fie bedingt wenn die Begei⸗ ſterung dazutritt und die Kräfte der Reflexion hinaus in f

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die Entſcheidung führt; und weil ſtarke Reflektiertheit eine größere Durchſchnittstüchtigkeit in den Vorausſetzungen zu handeln gibt wenn die Religioſität im Individuum dazu tritt und die Vorausſetzungen auf ſich nimmt. Die Re⸗ flexion iſt nicht das Böſe, aber der Zuſtand in der Reflexion und der Stillſtand in ihr ſind die Wißlichkeit und das Ver⸗ derben, die, indem ſie die Vorausſetzungen in Ausflüchte verwandeln, den Rückſchritt veranlaſſen.

Anſere Zeit iſt weſentlich die verſtändige, die leiden— ſchaftsloſe, deshalb hat ſie den Grundſatz des Widerſpruchs aufgehoben. Man kann von einer leidenſchaftsloſen aber reflektierten Zeit im Vergleich mit einer leidenſchaftlichen ſagen: ſie gewinnt an Extenſität, was ſie an Intenſität verliert. Aber dieſe Extenſität kann ja Bedingung für eine höhere Form werden, wenn eine entſprechende Intenſität wieder in ſich nimmt, was extenſiv zur Verfügung ſteht.

Den Grundſatz des Widerſpruchs aufheben iſt in der Exiſtenz der Ausdruck für: in Widerſpruch mit ſich ſelber ſein. Die ſchöpferiſche Allmacht, die in der abſoluten Leidenſchaft der Disjunktion liegt, die das Individuum in die geſchloſſene Einigkeit mit ſich ſelbſt bringt, wird in die Extenſität der Verſtandesreflexion verwandelt: indem man alles Mögliche weiß und iſt, im Widerſpruch mit ſich ſelber ſein, d. h. gar nichts ſein. Der Grundſatz des Widerſpruchs ſtärkt das Individuum zur Treue gegen ſich ſelber, ſo daß, gleich wie jene ſtandhafte Dreizahl, von der Sokrates jo ſchön redet, lieber alles aushalten will als zur Vier- zahl oder ſogar zu einer ganz großen runden Zahl zu werden, das Individuum lieber wenig in Treue zu ſich ſelber ſein will als allerhand im Widerſpruch mit ſich ſelbſt.

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Was iſt das, Schwätzen? Es iſt die Aufhebung der leidenſchaftlichen Disjunktion zwiſchen Schweigen und Xe⸗ den. Nur der, der weſentlich ſchweigen kann, kann weſentlich reden, nur der, der weſentlich ſchweigen kann, kann weſentlich handeln. Verſchwiegenheit iſt Innerlichkeit. Schwätzen anti⸗ zipiert das weſentliche Reden, und die Aeußerung der Re= flerion ſchwächt durch Vorkauf die Tat. Aber der, der we— ſentlich reden kann, weil er ſchweigen kann, er wird nicht über das NMannigfaltige zu reden haben, ſondern über das Eine, und er wird Zeit finden zum Reden und zum Schwei⸗ gen. Schwatzhaftigkeit gewinnt extenſiv: ſie bekommt alles Mögliche zum Schwätzen und bleibt dabei in einem fort. Wenn in einer Zeit die Individuen nicht in ſtiller Genüg⸗ ſamkeit, in der Zufriedenheit des Gemüts, in religiöſer Innerlichkeit nach innen gekehrt ſind, ſondern in einem Reflexionsverhältnis nach außen ſuchen und einander ſuchen; wenn keine große Begebenheit die Fadenenden in der Ein— tracht einer Kataſtrophe aneinanderknüpft: ſo tritt das Schwätzen ein. Die große Begebenheit gibt der leidenſchaft⸗ lichen Zeit (denn das Eine entſpricht da dem Andern) etwas zum Reden; alle wollen vom Selben reden, die Dichter nur von ihm ſingen, die Geſpräche nur davon widerhallen, der Vorübergehenden Grüße enthalten Anſpielungen auf die⸗ ſes Eine. Es iſt ein und dasſelbe. Geſchwätz dagegen hat ganz anders vielen Stoff zum Schwätzen. Und wenn ſo die große Begebenheit vorbei war, wenn die Stille eintrat, ſo blieb da doch etwas zu erinnern, an Etwas zu denken, während man ſchweigt, und während ein neues Geſchlecht von ganz anderen Dingen redet. Aber dem Geſchwätz graut vor dem Augenblick der Stille, der die Leere offenbar machen würde.

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Was ſich als Geſetz im Verhältnis zur dichteriſchen Produktion erweiſt, dasſelbe iſt auch, in geringerem Grad, das Geſetz für jedes Menſchen Leben in Umgang und Manieren, Jeder, der etwas urſprünglich erlebt, erlebt zugleich in der Idealität alle Möglichkeiten des Erlebniſſes und die Möglich- keit des Entgegengeſetzten. Dieſe Wöglichkeiten ſind ſein dichteriſch rechtmäßiges Eigentum. Seine eigene private per- ſönliche Wirklichkeit dagegen nicht. Seine Rede, fein Pro— duzieren ſind ſo gerade vom Schweigen getragen. Seiner Rede, ſeiner Produktion Vollendung wird im Verkehr ſein mit dem Schweigen, und des Schweigens abſoluter Ausdruck wird ſein: daß die Idealität die qualitativ entge⸗ gengeſetzte Wöglichkeit enthält. Sobald der Produzierende ſeine eigene Wirklichkeit preisgeben muß, deren Tatſächlich⸗ keit, ſo iſt er nicht weſentlich produktiv; ſein Anfang wird fein Ende ſein, und fein erſtes Wort bereits eine Verſün⸗ digung gegen der Idealität heilige Schamhaftigkeit. Ein ſolches dichteriſches Erzeugnis iſt deshalb auch, äſthetiſch ge— würdigt, eine Art privater Schwatzhaftigkeit, und iſt leicht daran kenntlich, daß es nicht ſeinen Gegenſatz bei ſich im Gleichgewicht hat. Denn die Idealität iſt Gleichgewicht des Einen mit ſeinem Gegenſatz. Der, der z. B. durch Unglück produktiv wurde, ſo er wirklich in die Idealität eingeweiht wurde, er wird mit derſelben Verliebtheit das Glückliche wie das Unglückliche ſeines Erlebniſſes produ⸗ zieren. Aber das Schweigen, mit dem er ſich gegen ſeine eigene perſönliche Wirklichkeit abſchließt, iſt gerade die Be⸗ dingung, die Idealität zu gewinnen, ſonſt wird er, trotz allen Vorſichtsmaßregeln, indem er die Szene nach Afrika verlegt uſw., doch an ſeiner einſeitigen Verliebtheit privatim kenntlich ſein. Denn ein Verfaſſer muß ja ſeine private Per⸗

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ſönlichkeit haben wie jeder andere, aber dieſe joll ſein Zöurov ſein; und wie man den Eingang in ein Haus verſperrt, indem man zwei Soldaten mit gekreuzten Gewehren davor ſtellt: ſo bildet das dialektiſche Kreuz der qualitativen Gegenſätze im Gleichgewicht der Idealität die Sperre, die jeden Zu- gang unmöglich macht.

Aber was ſo in den großen Verhältniſſen gilt, und ſich da am deutlichſten zeigt, weshalb es auch dargeſtellt wurde: dasſelbe gilt nach einem geringeren Maßſtab im Kleineren, das Schweigen iſt hier wieder die Bedingung für den ge- bildeten Umgang im Geſpräch zwiſchen Mann und Mann, Je mehr ein Wenſch im Schweigen Idealität und Idee hat, umſomehr wird er ſelbſt im täglichen Umgang imſtande ſein das tägliche Leben auch der Alltagsmenſchen jo wiederzugeben, daß es iſt, als redete er nur im Ab⸗ ſtand ſelbſt von einem ganz beſtimmten Faktum. Je weni⸗ ger Idealität, je mehr Aeußerlichkeit, umſomehr wird das Geſpräch ein unbedeutendes Herſagen werden und Refe- rieren von Perſonennamen, von „ganz zuverläſſigen“ Pri⸗ vatnachrichten, was der und der, mit Nennung des Na⸗ mens, gejagt hat uſw., eine geſchwätzige Vertraulichkeit be⸗ treffend was man ſelber will und nicht will, was man jetzt zu leiſten vor hat, was man geſagt haben würde bei einer beſtimmten Gelegenheit, welchem Mädchen man den Hof macht, weshalb man doch nicht heiraten will uſw. Des Schweigens Inſichgekehrtheit iſt die Bedingung für die ge⸗ bildete Rede im Umgang, das nach außen gekehrte Zerrbild der Innerlichkeit iſt Schwätzen, iſt Rohheit. Der, der ſchwätzt, ſchwätzt wohl über etwas, wie ja ſein Wunſch danach geht etwas zum Schwätzen zu bekommen, aber dieſes Etwas iſt es nicht im Sinn der Idealität, denn dann redet man,

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es ijt im faktiſchen Sinn der Trivialität ein Etwas, z. B. daß Herr Wadſen ſich verlobt hat und feiner Braut einen perſiſchen Shawl verehrte, daß der Dichter Peterſen eine neue Gedichtſammlung ſchreiben will, daß der Schauſpieler Marcuffen geſtern Abend ein Wort verkehrt ausgeſprochen hat. Geſetzt, die Verordnung könnte eingehalten werden, wir können es ja annehmen, geſetzt alſo, es käme eine Verordnung heraus, welche nicht den Wenſchen verböte zu reden, ſondern nur anbefahl, daß über alles, worüber geredet wird, ſo geredet werden müſſe, als wäre es vor fünfzig Jahren geſchehen: ſo wäre es aus mit den Schwät⸗ zern, ſie müßten verzweifeln; dagegen würde es weſentlich diejenigen nicht ſtören können, die wirklich reden können. Daß ein Schauſpieler ein Wort falſch ausgeſprochen hat, kann weſentlich nur intereſſieren, wenn am Verſprechen ſel⸗ ber etwas bemerkenswert war, dann iſt es ja aber gleich- gültig, ob es vor fünfzig Jahren geſchah aber Fräulein Guſta z. B. müßte verzweifeln, ſie die gerade ſelber an jenem Abend im Theater war, in der Loge mit der Kommer⸗ zienrätin Waller, und es war gerade ſie, die es bemerkte, die auch ſah, wie einer aus dem Chor darüber lachte uſw. Es wäre ja wirklich eine Sünde und Grauſamkeit gegen alle dieſe ſchwatzhaften Menſchen, die doch auch leben wollen, aber deshalb iſt ja die Verordnung auch nur ein Poſito. Durch dieſes Schwätzen wird nun die Diſtinktion zwiſchen dem Privaten und dem Oeffentlichen in einer privat-öffent- lichen Schwatzhaftigkeit aufgehoben, die ungefähr dem ent⸗ ſpricht, was das Publikum iſt. Denn das Publikum iſt die Oeffentlichkeit, die ſich für das Allerprivateſte intereſſiert. Was keiner wagen würde einer Verſammlung vorzutragen, wovon keiner reden könnte, was kaum die Schwätzenden

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recht zugeben wollen, daß ſie darüber geſchwätzt haben, das kann ganz gut für das Publikum geſchrieben, kann in der Eigenſchaft als Publikum gewußt werden.

Was iſt das, Formloſigkeit? Es iſt die aufgehobene Diſtinktion der Leidenſchaft zwiſchen Form und Inhalt, die deshalb wohl, im Unterſchied von Verrücktheit und Dumm⸗ heit, Wahrheit zum Inhalt haben kann, aber das Wahre, das ſie enthält, kann niemals weſentlich wahr ſein. Extenſiv | wird ſie ſich ausbreiten können, allumfaſſend oder alles antaſtend, im Gegenſatz zum weſentlichen Inhalt, der in⸗ tenſiv in Selbſtvertiefung feiner Beſtimmtheit, wenn man fo will, enge Begrenzung hat.

Die Allgemeinheit der Formloſigkeit in einer leidenſchafts⸗ loſen aber reflektierten Zeit drückt ſich übrigens, außer durch den tändelnden Umgang des Verſchiedenſten mit dem Verſchiedenſten, durch ihren Gegenſatz aus: einen über⸗ wiegenden Hang und Luſt zum Handeln „aus Prinzip“, Prinzipium iſt, wie das Wort ſagt, das Erſte, d. h. das Sub⸗ ſtantielle, die Idee in der uneröffneten Form des Gefühls, der Begeiſterung, die durch ihren inneren Trieb das Indi⸗ viduum vorwärts treibt. Dieſes fehlt dem Leidenſchafts⸗ loſen; für ihn wird das Prinzip ein Aeußeres, um deſſen willen er ſowohl das eine als auch das andere und das Ge⸗ genteil von beidem tut. Des Leidenſchaftsloſen Leben iſt nicht ein ſich offenbarendes und ausfaltendes Prinzip, im Ge⸗ genteil, ſein inneres Leben iſt ein geſchwindes Etwas, das beſtändig auf dem Weg iſt und darnach jagt etwas „aus Prin⸗ zip“ zu tun. Das Prinzip in dieſem Sinne wird ein un⸗ geheures Etwas, ein Abſtraktum gleich dem Publikum. Und wenn das Publikum ſo ein ungeheures Etwas iſt, daß ſelbſt alle Nationen auf einmal aufgeſtellt und ſelbſt alle

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Seelen der Ewigkeit zuſammen nicht ſo zahlreich ſind wie das Publikum, und doch jeder, ſogar der betrunkene Watroſe, ein Publikum hat, ſo iſt es genau ſo mit dem Prinzip. Es iſt ein ungeheures Etwas, das ſelbſt der unbedeutendſte Menſch zu der unbedeutendſten Handlung hinzuſetzt, und der dabei ſich ſelber unendlich wichtig wird. Ein braver unbe— deutender Wenſch wird plötzlich ein Heros „aus Prinzip“, und das Verhältnis bringt im Grund eine ebenſo lächer— liche Wirkung hervor, wie wenn ein Wann, oder wenn das Mode würde, überhaupt ein Jeder mit einer Wütze ginge, deren Schirm dreißig Ellen lang iſt. Wenn ein Mann „aus Prinzip“ einen kleinen Knopf an die Bruſttaſche ſeines Rode3 nähen ließe: jo würde dieſe unbedeutende und recht zweckmäßige Vorſichtsmaßregel plötzlich eine ungeheure Bedeutung erlangen es wäre nicht unwahrſcheinlich, daß aus dem Anlaß eine Geſellſchaft gegründet würde. Ge⸗ rade dieſes „aus Prinzip“ hebt wieder die leidenſchaftliche Disjunktion des Dekorums auf; denn das Dekorum liegt in der Unmittelbarkeit (der erſten oder der gewonnenen), im Gefühl, in der Begeiſterung innerem Trieb und innerer Kon— ſequenz mit ſich ſelber. Aus Prinzip kann man alles tun und es bleibt im Grunde gleichgültig, gleichwie eines Mannes Exiſtenz unbedeutend bleibt, ſelbſt wenn er „aus Prinzip“ alles unterſtützt, was des Tages Forderung heißt, ſelbſt wenn er dadurch, daß er Statiſt iſt, in dieſer Eigenſchaft als „Träger der öffentlichen Meinung“ genau ſo bekannt wird, wie jene Perſonen am Leierkaſten, die herauskommen und ſich mit dem Teller verneigen. Aus Prinzip kann man alles tun, an allem teilnehmen und ſelber ein unmenſchliches Unbe— ſtimmtes ſein. Ein Mann kann aus Prinzip ſich dafür in⸗ tereſſieren, daß ein Bordell angelegt wird; und derſelbe

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Wann kann aus Prinzip ſich für ein neues Geſangbuch in- tereſſieren, das die Forderung des Tages fein ſoll. Und fa ungerechtfertigt es wäre, aus dem erſten zu ſchließen, daß der Wann ausſchweifend ſei, ſo übereilt wäre es viel⸗ leicht, aus dem letzten zu ſchließen, daß er in dem Geſang⸗ buch leſen oder aus ihm ſingen wolle. Auf die Weiſe wird alles zuläſſig aus Prinzip, und wie die Polizei „auf Amts⸗ wegen“ an manche Orte kommt, wohin kein anderer kommt, und wie man mit Rückſicht auf eine Polizeiperſon aus ihrem Zugegenſein nichts zu ſchließen berechtigt iſt, ſo kann man alles aus Prinzip tun, und jeder perſönlichen Verantwor⸗ tung ſich entziehen. Man reißt nieder, was man ſelbſt bewun⸗ dert, aus Prinzip, was Unſinn iſt, denn das Gebärende, das Schaffende iſt immer latent polemiſch, weil es Platz haben muß, aber das bloß Niederreißende iſt ja Nichts, und ſein Prinzip iſt Leerheit, was ſoll das mit dem Platz? Scham oder Reue oder Verantwortung können indeſſen ſchwieriger Fuß faſſen auf ſolchem Grund; denn es geſchah ja alles „aus Prinzip“.

Was iſt das, Oberflächlichkeit und ihre Luſt: die Luſt am Repräſentieren? Oberflächlichkeit iſt die aufgeho⸗ bene Disjunktion der Leidenſchaft zwiſchen Verſchloſſenheit und Offenbarung, ſie iſt eine Offenbarung der Leere, die doch exten⸗ ſiv den Vorteil blendender Vorſpiegelungen gewinnt über die wirkliche Offenbarung, die die einsartige Weſentlichkeit der Vertiefung hat, während Oberflächlichkeit den Schein viel⸗ fältiger Möglichkeiten bietet. Und die Luft am Repräſen⸗ tieren iſt Selbſtvergafftheit der Einbildung in Reflexion. Die Verſchloſſenheit der Innerlichkeit bekommt nicht Zeit ein Weſentliches anzuſetzen, das zur Offenbarung kommen kann, ſondern trübt ſich lange vor der Zeit, und zum Erſatz

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zieht die Reflexion der Selbſtſucht Aller Augen wenn mög- lich hin auf dieſen mannigfachen Schein. i

Was iſt das, Liebelei? Es iſt die aufgehobene Diſtink⸗ tion der Leidenſchaft zwiſchen weſentlich lieben und wejent- lich ausſchweifend ſein. Weder der rechte Liebhaber noch der entſchieden Ausſchweifende machen ſich der Liebelei ſchul— dig, die mit der Wöglichkeit tändelt. Die Liebelei iſt des— halb eine Indulgenz, dem Böſen nahe kommen zu dürfen, und ein Ablaß von der Realiſation des Guten. Aus Prin⸗ zip zu handeln iſt ſomit auch Liebelei, weil ſie das ſittliche Handeln zu einer Abſtraktion verpfuſcht. Aber extenſiv hat die Liebelei den Vorteil, denn man kann mit allen Möglichen liebeln, aber weſentlich kann doch nur ein Mädchen geliebt werden, und erotiſch richtig verſtanden (ſelbſt wenn die Luſt in der Zeit der Verwirrung den Flüchtigen verblendet) iſt alles Addieren doch nur ein Subtrahieren, je mehr einer hinzufügt, umſo mehr zieht er ab. Was iſt das, Räſonnieren? Es iſt die aufgehobene Dis— junktion der Leidenſchaft zwiſchen Subjektivität und Objekti⸗ vität. Als abſtraktes Denken iſt das Räſonnieren nicht dialektiſch tief genug, als Meinung und Ueberzeugung iſt es ohne die individuelle Vollblütigkeit. Aber extenſiv geht der Räfonnierende mit dem Scheinvorteil ab; denn ein Denker kann ſeine Wiſſenſchaft umfaſſen, ein Mann kann eine Meinung über das haben, was zu ſeinem beſtimmten Fach gehört, kann eine Ueberzeugung haben auf Grund einer beſtimmten Lebensanſchauung, aber der Räſonnierende räſonniert über alles und jedes.

Anonymität hat in unſerer Zeit eine weit prägnantere Bedeutung als man vielleicht denkt, ſie hat faſt epigramma⸗ tiſche Bedeutung. Wan ſchreibt nicht bloß anonym, ſondern

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man ſchreibt anonym mit feinem Namen drunter, ja man redet anonym. Wie ein Verfaſſer ſeine ganze Seele im Stil konzentriert, jo konzentriert ein Wenſch weſentlich ſeine Perſönlichkeit in der Art ſeiner Rede, doch muß dies mit der einſchränkenden Ausnahme verjtanden werden, wel⸗ cher Claudius in einem ähnlichen Falle gedenkt, wenn er ſagt, daß wenn man ein Buch beſchwöre, ſo komme der Geiſt heraus es ſei denn daß gar keiner da iſt. Heut⸗ zutage kann man wirklich mit Menſchen reden, und muß

ſagen, daß ihre Aeußerungen über die Waßen verſtändig

ſind, während die Unterredung doch den Eindruck macht, als redete man mit einem Anonymus. Derſelbe Wenſch kann das Entgegengeſetzte ſagen, kann ruhig äußern, was in ſeinem Mund die bitterſte Satire auf ſeine eigene Exiſtenz iſt; die Aeußerung ſelbſt iſt ſehr verſtändig, ließe ſich gut in einer Generalverſammlung anhören, um mit einzugehen in eine Diskuſſion, durch die irgend etwas fabriziert würde, wie in der Fabrik Papier aus Lumpen gemacht wird. Aber alle dieſe vielen Aeußerungen machen doch nicht zuſam⸗ men eine perſönlich menſchliche Rede aus, ſo wie ſie ſelbſt vom Einfältigſten geführt werden kann, der nur über ſehr wenig reden kann, aber doch redet. Die Aeußerungen werden io objektiv, ihr Umfang jo allumfaſſend, daß es zuletzt ganz gleichgültig bleibt, wer ſie macht, ein Verhältnis, das in Hinſicht auf menſchlich Reden ganz dem Handeln aus Prinzip entſpricht. und wie das Publikum eine reine Ab⸗ ſtraktion iſt, ſo wird es zuletzt die menſchliche Rede auch, da gibt es keinen mehr, der redet, ſondern eine objektiv gewordene Neflerion ſetzt allmählich eine Atmoſphäre ab, erzeugt ein abſtraktes Tönen, das die menſchliche Rede überflüſſig macht, wie die Waſchine den Arbeiter.

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In Deutſchland hat man ſogar Handbücher für Liebende, ſo wird es wohl damit enden, daß ein Liebespaar da ſitzen und anonym mit einander reden kann. Zu allem hat man Handbücher und die allgemeine Bildung beſteht bald darin, mehr oder weniger Betrachtungen aus ſolchen Handbüchern auswendig zu wiſſen, und man erzelliert im Verhältnis zu ſeiner Fertigkeit, das Einzelne hervorzuholen, wie der Setzer die Lettern vornimmt.

So iſt unſere Zeit weſentlich verſtändig, ſie hat vielleicht ein Durchſchnittswiſſen wie keine Generation vor ihr, aber ſie iſt leidenſchaftslos. Jeder weiß vieles, wir wiſſen alle, welcher Weg gegangen werden ſoll, und die vielen Wege, die man gehen kann, aber keiner will gehen. Ueberwände endlich einer die Reflexion in ſich ſelbſt und käme zum Handeln, jo würden im ſelben Augenblick tauſend Reflexio— nen von außen her ihm einen Widerſtand bilden, denn nur Vorſchläge zu weiterer Ueberlegung werden mit aufbrau— ſender Begeiſterung entgegengenommen, Handlung aber mit Indolenz. Einige würden in vornehmer Selbſtzufriedenheit des Handelnden Begeiſterung lächerlich finden, Andere würden neidiſch werden, weil er es war, der den Anfang machte, da ſie doch gerade ſo gut wie er wußten, was zu tun ſei aber es doch nicht getan hatten. Andere würden den Umſtand benützen, daß doch einer da war, der ge— handelt hatte, um eine Wenge kritiſcher Betrachtungen ans zubringen und ein Lager von Räfonnement3 los zu werden, wie viel verſtändiger man noch hätte handeln können; andere wären geſchäftig im Erraten des Ausfalls und möchten am liebſten auf die Tat in der Richtung ihrer Hypotheſe Ein- fluß nehmen. Wan erzählt von zwei engliſchen Lords, daß ſie beim Spazierritt einem verunglückten Reiter begegneten,

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der im Begriff war vom Pferd zu fallen, das im Galopp vorwärts ſtürmte, während der Reiter um Hilfe ſchrie. Der eine Lord warf dem andern einen Blick zu und ſagte: Hundert Guineen, daß er fällt; gilt, erwiderte der andere. Darauf gaben ſie ihren Pferden die Sporen und ritten voraus, um alle Hinderniſſe aus dem Wege zu räumen. So würde die Verſtändigkeit unſerer Zeit, nur mit weniger heroiſchem Willionärsſpleen, einer Perſon gleichen, die neu⸗ gierig, kritiſch und weltklug im Maximum die Leidenſchaft hätte, eine Wette einzugehen. Des Lebens exiſtentielle Auf- gaben haben das Wirklichkeits⸗Intereſſe verloren, keine Illu⸗ ſion umfriedet das göttliche Wachstum der Innerlichkeit, die zu Entſcheidungen heranreift; der eine iſt neugierig auf den andern, alle warten unentſchloſſen und in Aus⸗ flüchten erfahren darauf, daß einer kommen ſolle, der etwas will um dann auf ihn zu wetten.

Es kann keine Rede davon ſein, daß die Idee des Sozia⸗ lismus und der Gemeinſchaft die Rettung der Zeit werden wird, ſie iſt im Gegenteil die Skepſis, die dazu gehört, damit die individuelle Entwicklung richtig vor ſich gehen kann, indem jedes Individuum entweder verloren geht oder in der Zucht der Abſtraktion religiös ſich ſelber gewinnt. Das Aſſoziationsprinzip (das höchſtens ſeine Gültigkeit im Verhältnis zu den materiellen Intereſſen haben kann) iſt in unſerer Zeit nicht affirmativ ſondern negativ, iſt eine Aus⸗ flucht, eine Zerſtreuung, ein Sinnesbetrug, deſſen Dialektik iſt: indem es die Individuen ſtärkt, enerviert es dieſelben, es ſtärkt durch das Numeriſche im Zuſammenſchluß, aber das iſt, ethiſch, eine Schwächung. Erſt wenn das einzelne Individuum ethiſche Haltung trotz der ganzen Welt ge— wonnen hat, erſt dann kann die Rede davon ſein ſich

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in Wahrheit zu vereinigen, jonjt wird die Vereinigung der, jeder für ſich, Schwachen etwas genau ſo Unſchönes und Verderbliches, wie wenn Kinder heiraten. Einſt hatten der Herrſcher, der Ausgezeichnete, die Hervorragenden jeder eine Meinung, die andern hatten die Geſchloſſenheit und Ent— ſchiedenheit, daß ſie eine Meinung nicht haben durften oder konnten; jetzt kann jeder eine Meinung haben, aber ſie müſ— ſen ſich numeriſch zuſammentun, um ſie zu haben. Fünf⸗ undzwanzig Unterfchriften unter dem Dümmſten find eine Meinung, des eminenteſten Kopfes gründlichſt durchgedachte Meinung gilt als Paradox. Die öffentliche Meinung iſt ein unorganiſches Etwas, eine Abſtraktion. Aber wenn der Kontext ſinnlos geworden iſt, helfen große Ueberſichten auch nichts und es iſt das beſte, man nimmt der Rede einzelne Teile vor, wenn der Mund nur Geſchwätz vorbringt hilft es nichts einen zuſammenhängenden Vortrag halten zu wol- len, man tut am beſten jedes einzelne Wort vorzunehmen und ſo auch mit dem Verhältnis der Individuen unter⸗ einander. Die Veränderung wird auch dieſe fein. Wäh- rend in den älteren Formationen (aus dem Verhältnis zwiſchen Geſchlecht und Individuum) die Unteroffiziere, die Offiziere, die Hauptleute, die Generale, die Helden (d. h. die Ausgezeichneten, die Hervorragenden nach ihren ver— ſchiedenen Graden, die Führer), kenntlich waren, und jeder (im Verhältnis zu ſeiner Autorität) mit ſeinem kleinen Detachement maleriſch und organiſch ſich in das Ganze ein- und unterordnete, ſelber geſtützt vom Ganzen und es wieder ſtützend: ſo werden jetzt die Ausgezeichneten, die Führer (nach ihren reſpektiven Graden) ohne Vollmacht ſein, ge— rade weil fie den göttlichen Sinn des diaboliſchen Prin- zips der Nivellierung verſtanden haben, fie wollen un⸗

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kenntlich ſein, wie die Polizei zivil ift, und ihre ent⸗ ſprechende Diſtinktion verborgen tragen, und nur negativ unterſtützen: d. h. abſtoßend, während der Abſtraktion un⸗ endliche Gleichheit jedes Individuum richtet, es in ſeiner Iſolation examiert. Dieſe Formation iſt der genaue dialektiſche Gegenſatz zu jener von Propheten und Richtern; und wie deren Gefahr war, nicht reſpektiert zu werden im Verhälmis zu ihrer Autorität, fo iſt der Unfenntlichen Gefahr, er⸗ kannt zu werden, ſich zu Anſehen und Bedeutung als Auto- ritäten verlocken zu laſſen, wodurch ſie ihre höchſte Ent⸗ wicklung aufhalten würden. Sie ſind nämlich unkenntlich oder gleichſam geheime Agenten nicht in Folge einer pri⸗ vaten Inſtruktion durch die Gottheit, denn das iſt ja gerade der Propheten und der Richter Verhältnis, ſondern ſie ſind unkenntlich (ohne Vollmacht), weil fie ſelber das All⸗ gemeine in Gleichheit vor Gott erfaßt haben, und weil ſie in jedem Augenblick dies unter Verantwortung faſſen. Dieſe Formation iſt der dialektiſche Gegenſatz zu der organi⸗ ſierenden, die das Geſchlecht hervorbringt, und die präfor⸗ miert iſt in den Ausgezeichneten zum Stützpunkt der Indi⸗ viduen, während ſie jetzt wie eine Abſtraktion, negativ unter⸗ ſtützt von den Unkenntlichen, ſich polemiſch gegen die Indi⸗ viduen wendet um jeden einzelnen religiös zu retten. Und wenn ſo das Geſchlecht, das ja ſelber nivellieren, ſich emanzipieren und die Autorität und zugleich ſich ſelber vernichten gewollt hat, in der Skepſis des Sozialismus den troſtloſen Waldbrand der Abſtraktion angefacht hat, wenn das Geſchlecht durch die Skepſis des Sozialismus nivellie⸗ rend die Individualitäten und alle die organiſchen Kon⸗ kretionen beſeitigt und an deren Stelle die „Wenſchheit“ und die zahlenmäßige Gleichheit zwiſchen Mann und Mann

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bekommen hat; wenn das Geſchlecht fo einen Augenblick ſich an der weiten Ausſicht einer abſtrakten Unendlichkeit ergötzt hat, die nichts Hervorragendes, auch nicht das min— deſte, begrenzend ſtört, ſondern da iſt nur „eitel Luft und Waſſer“, ſo beginnt die Arbeit, da die Individuen ſich ſelber helfen ſollen, jedes für ſich. Denn es wird nicht ſo ſein wie früher, als die Individuen, wenn es ihnen vor den Augen etwas zu ſchwindeln begann, nach dem zunächſt ſtehenden Ausgezeichneten ſahen, um ſich zu orientieren. Das iſt jetzt vorbei; ſie ſollen entweder verloren gehen im Schwindelgefühl vor der abſtrakten Unendlich— keit, oder unendlich gerettet werden in der Weſentlichkeit der Religiofität. Viele, viele werden vielleicht ſchreien in Ver⸗ zweiflung, aber das wird ihnen nichts helfen, jetzt iſt es zu ſpät. Sind die Autorität und die Wacht einſt miß⸗ braucht worden in der Welt, und haben fie eine Revolutions⸗ Nemeſis über ſich gebracht, jo waren fie ja eigentlich die Ohnmacht und die Schwachheit, die ſelber auf eigenen Füßen ſtehen wollten und deshalb nun dieſe Nemeſis über ſich brachten. Und keiner der Unkenntlichen darf ſich unter— ſtehen direkt zu helfen, ſich direkt zu äußern, direkt zu lehren, an der Spitze der Menge in die Entſcheidung zu gehen (ſtatt negativ unterſtützend dem Individuum hinaus in die Entſcheidung zu helfen, in der er ſelber iſt); das würde feine Entlaſſung fein, weil er in kurzſichtigem menſch— lichem Witleid pfuſchen wollte anſtatt Gottes Befehl zu gehorchen, dem zürnenden aber doch ſo gnädigen Gott, denn die Entwicklung iſt doch ein Fortſchritt, weil alle die In⸗ dividuen, die gerettet werden, der Religiofität ſpezifiſches Gewicht gewinnen, deren Weſentlichkeit aus erſter Hand von Gott ſelber erhalten. Da wird es alſo heißen: ſiehe

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alles iſt bereit, ſiehe die Grauſamkeit der Abſtraktion macht die Endlichkeit in ihrer Täuſchung als ſolcher offenbar, ſiehe der Unendlichkeit Abgrund öffnet ſich, der Vivellierung ſcharfe Senſe läßt alle, jeden beſonders, über die Klinge ſpringen ſiehe, Gott wartet! So ſpring zu in Gottes Arme. Aber ob der Unkenntliche auch der am meiſten Betraute iſt, ob es auch das Weib iſt, das ihn unter dem Herzen getragen hatte, ob es das Mädchen iſt, für das er freudig ſein Leben geben würde, der Unkenntliche ſoll ihnen nicht helfen dürfen und können, ſie müſſen den Sprung ſelber machen, und Gottes unendliche Liebe ſoll für ſie nicht eine Gabe aus zweiter Hand ſein. Und doch ſollen die Unkenntlichen (im Verhältnis zu ihrem Rang) doppelte Arbeit haben im Vergleich mit den Ausgezeichneten (vom ſelben Rang) einer älteren Formation; denn die Unkennt⸗ lichen müſſen beſtändig arbeiten und zugleich arbeiten um es zu verbergen, daß ſie arbeiten.

Aber der Nivellierung troſtloſe Abſtraktion wird beſtän⸗ dig von ihren Dienern fortgeſetzt, um zu verhindern, daß es doch nicht damit enden ſolle, daß eine ältere Formation wieder hervorkommt. Dieſe Diener der Nivellierung ſind die Diener des Böſen, denn die Nivellierung ſelbſt kommt nicht von Gott, und jeder gute Menſch wird Augenblicke haben, wo er über ihre Troſtloſigkeit weinen möchte, aber Gott erlaubt es nicht, und will mit den Individuen, d. 9. mit jedem beſonders, das Höchſte herausbringen. Der Ni⸗ vellierung Diener werden erkannt von den Unkenntlichen, aber Macht oder Autorität gegen fie dürfen die Unkenntlichen nicht gebrauchen, denn dann geht die Entwicklung zurück, weil es im ſelben Augenblick für einen dritten Mann offen⸗ bar ſein würde, daß der Unkenntliche eine Autorität war,

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und jo wäre ja dieſer dritte Mann im Höchſten behindert. Nur durch eine leidende Handlung wird der Unkenntliche der Vivellierung hervorhelfen dürfen, und wird durch die— ſelbe leidende Handlung das Werkzeug richten. Er darf nicht die Nivellierung geradeswegs überwinden, denn das bedeutete ſeine Entlaſſung, da dies in Richtung auf Auto⸗ rität handeln hieße, ſondern er wird ſie leidend überwin— den, und deshalb wieder das Geſetz feiner Exiſtenz aus⸗ drücken, das nicht herrſchen, lenken, leiten iſt, ſondern lei— dend dienen und indirekt helfen. Die, welche den Sprung nicht gemacht haben, werden der Unkenntlichen leidende Handlung für deren Niederlage halten, und die, welche den Sprung gemacht haben, werden eine Vorſtellung davon haben, daß ſie deren Sieg war, aber ſie werden keine Ge— wißheit haben, denn Gewißheit könnten ſie nur von ihm bekommen, und gibt er ſie einem einzigen MWenſchen direkt: ſo bedeutet das ſeine Entlaſſung, weil er Gott untreu wurde und Autorität ſpielen wollte, weil er nicht Gott gehorchend lernte, die Menſchen unendlich zu lieben, indem er ſich ſelber bezwang, und nicht mit Wacht ſie zwang und betrog, auch wenn ſie ihn darum baten.

Man muß immer wieder daran erinnern, daß nicht die Reflexion ſelbſt oder in ſich ſelbſt etwas Verderbliches iſt, daß im Gegenteil das Sichhindurcharbeiten durch ſie die Bedin— gung für ein intenſiveres Handeln iſt. Die Arten begeiſterten Tuns ſind ja dieſe: zuerſt kommt die unmittelbare Begeiſte— rung, fo folgt die Zeit der Klugheit, die, weil die unmittel- bare Begeiſterung keine Berechnung kennt, infolge der Er— findſamkeit der Berechnungen den Schein erweckt, als ſei ſie ein Höheres; und dann folgt endlich die höchſte, die intenſivſte Begeiſterung, die nach der Klugheit kommt, und

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die deshalb wohl einſieht, was das Klügſte iſt, aber verachtet es zu tun und gerade dadurch die Intenſität der unendlichen Begeiſterung gewinnt. Dieſe intenſivſte Begeiſterung wird bis auf Weiteres vollſtändig mißverſtanden werden, und die Frage iſt, ob ſie jemals populär werden kann, d. h. ob die Klugheit in dem Grad unter den durchſchnittlichen Men⸗ ſchen vorauszuſetzen ſein wird, daß ſie in deren Augen das Verführeriſche und Lockende verloren hat, und die Menſchen ſie alſo nicht bloß bewältigen könnten, ſondern in der höchſten Begeiſterung mit ihr gleichſam Verſchwendung trieben, indem ſie ſich mit der Befriedigung der unendlichen Begeiſterung begnügten, denn gerade weil ſie gegen die Klugheit geht, wird eine Tat ſolcher Begeiſterung niemals in die Augen fallend ſein. Sokrates war ſo kein unmittelbar Begeiſterter, er war im Gegenteil klug genug, um einzuſehen, was er tun müßte um freigeſprochen zu werden, aber er verſchmähte es, ſo zu handeln, wie er es auch verſchmähte die angebotene Verteidigungsrede anzunehmen. Gerade deshalb war ſein Heldentod nicht Aufſehen erregend, ſelbſt im Tode ſetzt er feine Ironie fort, indem er den Klugen die Aufgabe ſtellt: ob er doch auch wirklich die Klugheit gehabt haben ſollte, da er das Gegenteil davon tat. Hier iſt die Stelle, wo die Klugheit im eigenen und der Umwelt Reflexionsurteil hän⸗ gen bleibt, man fürchtet, daß die Tat gegen die Klugheit verwechſelt werde mit der Tat ohne Klugheit. Die unmittel⸗ bare Begeiſterung kennt nicht dieſe Gefahr, deshalb braucht es der höchſten Begeiſterung impetus um hindurchzudringen. Und dieſe höchſte Begeiſterung iſt nicht rhetoriſcher Schnick— Schnack von einer höheren, noch höheren und einer aller- höchſten, ſie iſt kenntlich an ihrer Kategorie: daß ſie gegen den Verſtand handelt. Die unmittelbare Güte kommt ſo

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auch nicht in die Reflexionsgefahr, daß Güte mit Schwach: heit verwechſelt werde, gerade deshalb braucht es aber, nach der Reflexion, eines religiöfen impetus um die Güte von neuem flott zu machen.

Jedoch ich breche ab. Das alles kann natürlich nur intereſ— ſieren wie ein Narrenſtreich, denn iſt es ſo, daß jeder Menſch an ſeiner eigenen Rettung arbeiten ſoll: ſo wird alle Prophetie über den Fortgang der Welt höchſtens erträglich und erlaubt ſein als Unterhaltung, als Scherz, wie das Kegelſchieben oder das Kartenſpielen.

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Nachwort von Theodor Haecker

„En literair Anmeldelſe“ erſchien im Jahr 1846 als An⸗ meldung und überaus anerkennende Beſprechung einer im ſelben Jahr erſchienenen Novelle: „To Tidsaldre“, deren Verfaſſer oder vielmehr Verfaſſerin Frau Gyllembourg ihre Pſeudonymität bis zum Tode wahren konnte und alſo auch Kierkegaard nicht bekannt war. Der erſte Teil der Anmel⸗ dung geht genau und bis in Kleinigkeiten auf die Novelle ein, im zweiten Teil iſt dieſe für Kierkegaard nur noch An⸗ laß zu einer Kritik der Zeit. Dieſer zweite Teil iſt hier überſetzt worden; die wenigen und ganz kurzen Anſpielungen auf die Novelle und deren Helden, die auch er noch enthält, | find, ſoweit fie unverſtändlich wären, weggelaſſen worden.

Der deutſche Geiſt hat ein Recht auf Kierkegaard, denn deſ⸗ ſen Bildung war durch und durch deutſch. Leſſing, Hamann, Jacobi, die großen Philoſophen Kant, Fichte, Schelling, Hegel die beiden letzten lehnte er freilich ſehr raſch ab die gro⸗ ken Dichter Goethe, Schiller, die Romantiker, namentlich E. T. A. Hoffmann und mit großer Liebe Jean Paul, Schopen⸗ hauer, als er in Deutſchland noch nicht geleſen wurde, deutſche klaſſiſche Philologie und Theologie: die Tübinger Schule, ſie alle kannte er. Ja ſogar ſeinen „Dichter der Dichter“, bei dem er alle Kolliſionen menſchlicher Leidenſchaften, mit einziger Ausnahme der letzten religiöfen, mit Freude und Dankbarkeit wiederfand Shakeſpeare, las er in der Schlegel⸗ ſchen Ueberſetzung. Die deutſche Sprache iſt nun aber auch

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bei weitem die glücklichſte: wie viel auch verloren gehen möge, ſie kann doch Shakeſpeare wiedergeben, ſie verſteht auch Kierkegaard. Die franzöſiſche Sprache kann mit beiden nichts anfangen; gleich das erſte Wort, mit dem Kierfe- gaard beginnt: enten eller, was entweder oder heißt, kann ſie nicht überſetzen, ſie muß dafür ſagen: ou bien ou bien. Klingt das nicht verdammt nach ſowohl als auch? Sie hat auch kein Wort für Inderlighed Inner— lichkeit, und ſie hat keines, das ſo immerzu auf dem Weg und auf der Fahrt in das Ewige und Göttliche iſt, wie dieſes Er-indring Er⸗innerung.

Kierkegaards Stellung zu Staat und weltlicher Herrſchaft iſt die aller großen Chriſten und der meiſten großen Philo— ſophen, die ſich immer auf das Wort des Evangeliums berufen konnten: Gebet dem Kaiſer, was des Kaiſers iſt. „Ich bin niemals „Oppoſition' geweſen, die die ‚Regierung’ abſchaffen will, ſondern gab, was man ſo nennen kann, ein Korrektiv ab, das will, daß doch um Gottes und Himmels willen von denen regiert werden ſoll, die dazu tauglich und berufen ſind, daß ſie, Gott fürchtend, feſt ſtehen möchten, nur Eines wollend, das Gute“. Weil in der Politik keine Vollkommenheit und kein Gleichgewicht und keine abſolute Gerechtigkeit möglich ſind aus metaphyſiſchen, nicht aus hiſtoriſchen oder ſozialen Gründen fo gilt es in der Re—⸗ gel zwiſchen zwei Vergewaltigungen zu wählen. Die Wahl jener großen Führer des Geiſtes entſcheidet ſich nun viel leichter für das Uebermaß an Autorität, ja an Strenge und Gewalt, als für Laxheit, Sichgehenlaſſen, Nivellieren und Anarchie. Um der geiſtigen Werte und deren ewiger Hierar⸗ chie willen, die in einer liberalen Demokratie unendlich viel

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mehr gefährdet ſind als unter irgend einer abſoluten Herr⸗ ſchaft. Ich möchte nicht das Wißverſtändnis verſchulden als ſei damit geſagt, daß irgend eine konſervative Partei ohne jede Zwiſchenbeſtimmungen und ohne daß ſie ſelber frei⸗ willig ſich einem noch viel ſtrengeren Geſetz unterwirft als das iſt, das ſie anderen auferlegt, ſich auf Auguſtinus, Pas⸗ cal, Schopenhauer, Kierkegaard, Nietzſche, Doſtojewski be⸗ rufen dürfte. Davon iſt keine Rede. Was dieſe Männer ſehen und erkennen, iſt, daß ein geiſtiges Leben ſich in autoritativ regierten Staaten immer noch beſſer entfaltet als in libe⸗ ralen, und außerdem ſind ſie alle des Glaubens, daß der Wenſch nicht zum Spaß auf der Welt und deren Sinn und Zweck nicht iſt, daß das Intelligenzgeſindel „behaglich lächelt“. Durch Rouſſeau kam eine maßloſe Verwirrung in das euro⸗ päiſche Geiſtesleben, denn er führte zum erſten Mal mit Er⸗ folg den falſchen Begriff der natürlichen Gleichheit für den richtigen der religiöſen ein. Für Kierkegaard bedeutete das keine Gefahr, denn er ſtand jenſeits dieſer Bewegung uner⸗ ſchütterlich feſt, aber einen anderen großen Mann drohte die Verwirrung manchmal mit ſich zu reißen: Tolſtoi. Der Zwie⸗ ſpalt in der Seele dieſes Mannes offenbart ſich in ſeinem Schwanken zwiſchen politiſchen Reformen und Religion. So⸗ lange Tolſtoi Dichter iſt, ſieht und erkennt er die religiöſen Wirklichkeiten mit erſchütternder Klarheit und Deutlichkeit. Kann man das Leben und den Sinn der Evangelien klarer und deutlicher erkennen als in den Volkserzählungen, in Herr und Knecht, im Tod des Iwan Iljitſch? Aber hier ſpielt ſich das neue innerliche Leben trotz der Politik und über ihr, trotz der natürlichen und ſozialen Unterſchiede, die beſtehen bleiben, und über ihnen ab. Und das allein iſt der Sinn der Religion; daß dieſe dann, wenn ſie wirklich da iſt, auch

das politiſche und ſoziale Leben durchwirkt, das iſt gewiß, aber es iſt das Zweite, iſt die Folge. Sobald Tolſtoi nicht mehr Dichter iſt, ſondern nur Theoretiker und gerades— wegs Reformator, umdämmert ſich ſein Blick, er ſieht nicht mehr klar, er tritt das Rouſſeau'ſche Erbe der Verwechſe— lung und der Verworrenheit an, nur immer und in jedem Augenblick unendlich viel größer als Rouſſeau, weil er unter der Verwechslung und unter der Verworrenheit immer wieder maßlos litt. So verſchieden iſt die Begabung des Dichters von der des Philoſophen, daß ein und derſelbe Wenſch als Dichter eine Wahrheit klar und lichtvoll ſehen und darſtellen kann, während er ſie als Philoſoph und theoretiſcher Denker nicht mehr zu faſſen vermag, ſie verwirrt ſich oder entgleitet ihm ganz. In dem Drama „Und das Licht ſcheinet in der Finſternis“ iſt ein deutliches Beiſpiel für dieſe theoretiſche Unzulänglichkeit. Dort beruft ſich der Held (alſo Tolſtoi) im erſten Akt auf Renan. Für ein Ohr von feinerem phi⸗ loſophiſchem Gehör iſt das ein faſt unerträglicher Mißton, denn Renan, eine der zweideutigſten Erſcheinungen des 19. Jahrhunderts, hätte über Tolſtois Gewiſſensqualen und re= ligiöſe Leiden nur gelächelt, genau fo wie heute Herr Georg Brandes oder Herr Bernard Shaw darüber lächeln wür— den; immerhin habe ich Renan wegen dieſer Vergleiche vielleicht doch um Verzeihung zu bitten. Gegen Tolſtai, ſoweit er den Charakter des öffentlichen Reformators annahm, wäre Kierkegaard aufgetreten, denn er ſchrieb: „Will Einer ethiſch im Charakter des Reformators auf⸗ treten,. . .. werde ich augenblicklich zur Stelle fein und übernehmen, was ich vor Gott als meine Aufgabe verſtehen werde. Dieſe meine Aufgabe wird ſein: ihn, den Reformator zu begleiten, Schritt für Schritt, niemals weichend von ſeiner

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Seite, um zu ſehen, ob er Schritt für Schritt im Charakter und der Außerordentliche iſt. Sollte es ſich zeigen, daß er es iſt, ja da wird meine Begleitung eitel Bücken und Ehr⸗ erbietung ſein vor ihm, dem Außerordentlichen und wahrlich, das darf ich über mich ſelber ſagen: er ſoll in der Gegenwart keinen finden, nicht einen Einzigen, der tiefer ſich zu bücken verſteht vor dem Außerordentlichen, das lernte ich nicht an irgend einem Hof, ſondern höher oben, im Um⸗ gang mit den Idealen, wo man lernt ſich unendlich tief zu bücken. Aber verleugnet er den Charakter: in der ſelben Sekunde ſtürze ich mich auf ihn; und das darf ich über mich ſelber ſagen: in der Gegenwart iſt keiner, der einen ſichereren Stoß führt als ich, wo es meine Aufgabe iſt, oder wo einer fälſchlich ſich für das Außerordentliche ausgibt dieſen ſicheren Stoß, den lernte ich im Umgang mit den Idealen, wo man tief gedemütigt lernt ſich ſelbſt zu haſſen, aber, weil man doch den Wut hatte, der wagte ſich mit ihnen einzulaſſen, als Gnadengabe die Wacht empfängt, dieſen Stoß zu führen.“

Kierkegaard kann anſcheinend ſeine Unterſuchungen noch aus der Diſtanz einer in Wolken thronenden philoſophiſchen und religiöfen Weltanſchauung führen, manchmal in der Sprache der deutſchen Philoſophie, als entwickle er den Zuſtand der Welt aus Grundſätzen a priori. Man will ja auch nicht recht glauben, daß es im Jahr 1846 ſchon ſo ausgeſehen habe wie im Jahre 1914; vieles muß Kierke⸗ gaard doch antizipiert haben, meint man. Es iſt ja auch wahrſcheinlich, daß das Jahr 1846 und die Stadt Kopen⸗ hagen ſich nicht in dem Spiegel wieder erkannten, den ihnen ihr größter Geiſt entgegenhielt, da der Spiegel ſchon Dinge

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ſah, für die die neuen Augen erjt geſchaffen werden mußten. Aber aus dem Jahr 1846 wurde ganz von ſelber das 20. Jahrhundert und aus dem kleinen Kopenhagen das Rieſenpublikum Europas und dieſe beiden gigantiſchen Er- ſcheinungen gibt der kleine Dänenſpiegel heute wieder, als wäre ſein Bild das Ideal geweſen, das die Entwicklung und der Fortſchritt, immer ſtrebend ſich bemühend, erreichen woll- ten. An einem Punkte jedoch kann man ſehen, daß nicht eine abſtrakte Phantaſie Kierkegaards Führerin war, ſon⸗ dern eine konkrete Wirklichkeit, nicht eine phantaſtiſche un⸗ perſönliche Selbſtentwicklung des Gedankens, ſondern ein perſönliches Erlebnis, eine aus Leiden geborene Erfahrung. Ich meine natürlich die Stelle, an der vom Korſaren ge— redet wird: „die literariſche Verächtlichkeit“, „der Hund, den ſich das Publikum hält“, „der Hund, der in die Veterinär⸗ ſchule gebracht wird, um dort totgeſchlagen zu werden“. Ein guter Leſer gibt es noch gute Leſer? wird dieſen Worten die Gegenwart und das Leben geben, er wird ſich vor— ſtellen, daß ſie in einem kleinen Land, in einer kleinen Stadt gegen ganz bekannte, ſehr talentierte Schriftſteller, deren Werke von rührigen deutſchen Verlegern heute noch über- ſetzt und herausgegeben werden, geſchrieben wurden, ein guter Leſer alſo wird fühlen, ein wie furchtbarer Haß hinter dieſen harten Worten geſtanden ſein muß. Hier war eine der Quellen der Erkenntnis für Kierkegaard. Nur Weiber und Schwätzer werden blind von Liebe und Haß, den Mann und den Denker machen ſie ſehend. Die Affäre mit dem Korſaren enthält außerdem auch ein Beiſpiel für die Macht der perſönlichen Wirkung Kierkegaards. Es muß ja jeder, der den Begriff der Angſt und die Krankheit zum Tode aufmerkſam und mit etwas eingeborenem Ver⸗

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ſtändnis geleſen hat, ahnen, daß im Verfaſſer dieſer Bücher eine Gewalt der Perſönlichkeit geweſen ſein muß, die die Menſchen den Einzelnen zwingen konnte, ſich zu offen⸗ baren, zu zeigen, was Gutes oder Böſes in ihnen ſei, ja noch mehr, eine Gewalt, die den Dämonen im Wenſchen die Zunge löſen und ſie zum Reden bringen konnte, oder doch, weil Reden ſelten deren Art iſt: zum Schreien und zum Schluchzen. Hier iſt jedoch ein Beiſpiel: Als der Literat Goldſchmidt, der die Hetze im Korſaren gegen Kierkegaard leitete und dieſem zu dem Martyrium ver⸗ half, auf der Straße „totgegrinſt zu werden“, der auch reich⸗ lich über den von Kierkegaard und zur ſelben Zeit mit dem⸗ ſelben Wort von Schopenhauer verworfenen Witz Heine's ver⸗ fügte, einmal mit Kierkegaard auf der Straße zuſammentraf, ging dieſer auf ihn zu und ſprach mit ihm mahnend, daß er auf dem Weg der Verlorenheit ſei, er ſprach mit ihm nach der Art der großen Chriſten, die auch im Feind, den ſie vernichten müſſen, noch Gott lieben, und Goldſchmidt fing an zu weinen auf der Straße; er hielt es nicht allzulange aus, gab den Korſaren auf und verließ die Stadt. Uebrigens immer⸗ hin einer, der weil er ſich vom Geiſt vernichten ließ, auch wieder vor dem Geiſt beſtehen könnte. Die Goldſchmidts von heute würden bei weitem „fortſchrittlicher“ ſein und weiter grinſen, denn es iſt ja möglich, daß jetzt auch ein Judas, anſtatt ſich aufzuhängen, die Silberlinge auf die Bank trägt. Was kann er uns denn tun? würden ſie ſagen. Weltliche Wacht hat er keine, will er keine haben, den Sparren im Kopf hat er nun einmal. Das Geld kann er uns auch nicht nehmen, alſo was kann er uns tun! Und es gibt ja auch genug Zeitſchriften, die wie z. B. der „März“ im Namen der Freiheit auch die Frechheit aufnehmen. Das

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ſoll jetzt der März meiner Heimat fein! Was habe ich Schwabe, der ſtolz war auf ſein ſchweigſames Land, plötzlich für ſchwatzhafte Landsleute bekommen! Den Traub, den Berliner Tageblatt⸗Traub! Iſt es, iſt es möglich? Und wer rauſcht jetzt in allen Blättern, wie nie die Bäume meiner Kindheit rauſchten? Ach anders hab ich euch im Gedächtnis, ihr Hügel meiner Heimat, die hochgewölbte Wäl— der und helles Weinlaub tragen, denn euch beſchritt lie— bend, träumend in Schwermut der gottgeplagte Knabe Höl— derlin. Warum blieb das Sudelwetter nicht in München?

Die Kritik der Gegenwart iſt 1846 erſchienen. Und 18482 Wiewohl man in Kierkegaards Schriften nicht ein einziges Wort findet, das mit der eigentlichen Politik etwas zu tun hat, fo folgt daraus doch keineswegs, daß er fie nicht ver- folgt, daß er nicht genau gewußt hätte, wie es in ihr zuging. Dabei vergeſſe man nicht, wovon eben geſprochen wurde, daß ihm in außerordentlichem Maß die Wacht der per— ſönlichen Wirkung gegeben war. Und weil in ſeinem Herzen und in ſeinem Kopf alle die Gedanken waren, die ein Menſch haben kann, die guten wie die böſen, und die guten den Sieg immer erſt erkämpfen mußten, ſo iſt kein Zweifel, daß ihm auch zuweilen der Gedanke oder deſſen Möglichkeit in den Sinn kam, plötzlich aufzutreten und die Menge irgend— wohin mitzureißen. Wer will zweifeln, daß er die Kraft dazu gehabt hätte, er der ſpäter wirklich als „Aktor gegen die Zeit“ auftrat und mit einem religiöfen Thema ganz Skan⸗ dinavien in leidenſchaftliche Spannung brachte. Als Höff⸗ ding im vorigen Jahr ſeinen Studenten an der Univerſität in Kopenhagen erklärte, daß kein anderer däniſcher Dichter die Heide und die Wälder ſeiner Heimat und das Meer,

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das das Land umfpült, in beſchwörenderen Worten beſungen habe als Kierkegaard, erzählte er ihnen auch, ſich erſchüttert auf ſeine Kindheitstage beſinnend, wie plötzlich die Welt ganz anders ausgeſehen habe, wie die Luft rein und durch⸗ ſichtig wurde und die Ideale dem Alltagsleben näher gerückt ſchienen, in den paar Monaten, als Kierkegaard den Augen⸗ blick herausgab: „wer das nicht erlebt hat, kann es ſich nicht vorſtellen“. Ich glaube das, ich glaube, daß das mächtigſte Schauſpiel der Natur, ein Gewitter auf freiem Feld, nur ein ſchwaches Bild für die Großartigkeit jenes geiſtigen Schauſpiels iſt, aber auch das einzige: es gibt Gewitterwolken, die nur einen Blitz zu ſchleudern haben, doch zuweilen ſieht man eine, aus der flammt Blitz auf Blitz und ſie geht unter in Feuer und Donnerſchlag. In der Politik läßt ſich nun die Leidenſchaft eines Volkes und einer Menge doch noch am leichteſten erregen. So iſt vielleicht Kierkegaard beim Anblick der Regierungen und der Könige auch zuweilen der Gedanke gekommen, dem der junge Na— poleon gegenüber dem Schwachſinn Ludwigs XVI. das Wort gab: che coglione. Jedoch den guten und ganzen Gedanken über den böſen und halben, den einen über die vielfältigen ſiegen laſſend ging Kierkegaard unerſchütterlich an der Po— litik vorbei, und über das Jahr 1848 finden ſich dieſe Sätze: „Das Jahr 1848 hat meine Kritik der Zeit nicht Lügen geſtraft.“ . . .. „Sie zerriſſen den Faden der Klugheit; man hörte das Heulen, das Chaos ankündigt! ‚Mit dem Jahr 1848 trat der Fortſchritt ein’ ſagen fie. Ja wenn nun nämlich wirklich eine ‚Regierung’ zuſtande kommt, wozu viel⸗ leicht nicht ein einziger neuer Beamter oder die Entlaſſung eines früheren nötig iſt, ſondern nur eine innerliche Um⸗ wandlung mit der Richtung: Feſt zu bleiben und Gott zu

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fürchten. Der Fehler oben war ficherlich der, daß im Gan- zen der Regierung von vorne bis hinten die Stärke weſentlich nur weltliche Klugheit war, was juſt weſentlich Mangel an Stärke iſt; die Schuld unten war die: alle Regierung weg haben zu wollen: die Strafe denn der Sünde Maß it immer der Strafe Maß die Strafe iſt: was am bitterſten entbehrt werden wird, wird juſt ſein: Regierung. Niemals ſo wie in unſerem Jahrhundert haben ſich das Geſchlecht und die Einzelnen in ihm (der Befehlende der Gehorchende; der Vorgeſetzte der Untergebene; der Lehrer der Schüler uſw.) ſo vollkommen befreit von aller Rückſicht darauf, daß etwas feſt ſteht und unbedingt feſt ſtehen ſoll; niemals fühlten ‚die Meinungen’ ſich fo in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ungeniert und fidel unter dem Freipaß „bis zu einem gewiſſen Grad’, Niemals wird wohl das Geſchlecht ſo tief zu dem Geſtändnis kommen müſſen, daß ihm und in ihm jedem Einzelnen dieſes not tut, daß etwas feſt ſtehe und unbedingt feſt ſtehen ſoll, das, was Gott der Liebende und aus Liebe er— fand, das Unbedingte, an deſſen Stelle der Wenſch, der kluge, zu ſeinem eigenen Verderben, ſich ſelbſt bewun— dernd dieſes bewunderte ‚bis zu einem gewiſſen Grad’ R Iſt um bei dem Weinen, dem Religiöfen, zu bleiben, iſt das Geſchlecht, oder ein großer Teil Einzelner in ihm, dem Kindlichen entwachſen, daß ein anderer Wenſch für ſie das Unbedingte repräſentiert, gut, deshalb kann trotzdem das Unbedingte nicht entbehrt werden, ja ſogar, umſo weniger kann es entbehrt werden.“

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„Die Nivellierung kommt nicht von Gott“. „Viele, viele werden ſchreien in Verzweiflung, aber jetzt iſt es zu ſpät.“ Wer regiert heute die Welt? Jedes Kind, jede Tänzerin und namentlich jeder Winiſter weiß, daß es die Preſſe iſt, wenn ſie auch nicht faſſen, was das zu be— deuten hat, wiewohl es der Winiſter eigentlich faſſen ſollte. Ein europäiſches Volk erkennt man an ſeinen Zeitungen, am beſten an ſeinen erfolgreichſten. Ich bin Deutſcher, alſo her mit dem Berliner Tageblatt! Auflage 230.000.

Die komiſche Einheit der talentierten Schmierigkeit iſt da, denn das Feuilleton iſt in der Politik und die Politik im Feuilleton enthalten. Es kommt nämlich aufs gleiche heraus, ob oben in der Politik ein feuilletoniſtiſch friſierter Wolff daher die zwei f die deutſchen Schafe hütet, oder ob unter dem Strich die deutſche Kunſt ein demokra— tiſches Schlenderdaſein führt. Es könnte auch umgekehrt ſein: der Wolff im Feuilleton, der Schlenther in der Politik: Wer weiß, vielleicht wechſeln ſie auch ab, die ungenierten Tauſend⸗ künſtler. Es iſt dasſelbe, ob oben von irgend einem Gebil- deten, Profeſſor gar, Fichte zum Schutzpatron des Berliner Tageblatt⸗Liberalismus ernannt wird, eine Dummheit wie- wohl eine Frechheit aber auch jede Dummheit geht ihnen ungeſtraft hin, weil nämlich die Gegner immer noch dümmer und dazu weſentlich faul find oder wenn unter dem Strich ein den böhmiſchen Wäldern entlaufenes und urſprünglich für eine Bartwuchsmittel-Reklame beſtimmtes Haarphäno⸗ men mit der lohnenden Aufgabe betraut wird, beſtändig und ohne Unterlaß das Daſein liberal-ſkeptiſch anzugrin⸗ ſen. Es ſchadet auch nichts, wenn die Weisheit Sombarts, freilich etwas liberal korrigiert, abgedruckt wird, denn dieſer prachtvolle Denkertypus paßt ganz gut in die Zeit und in

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die Zeitung. Wit Hilfe einer kindiſchen Unterſcheidung zwi— ſchen objektiver Wiſſenſchaft und ſubjektiven Zwecken, einer Unterſcheidung, mit deren fadenſcheiniger Logik und durch— ſichtigen Motiven ein Student im erſten Semeſter ſich eigent— lich genieren müßte aufzutreten, bringt es dieſer Jorſcher fertig, zwar den jüdiſchen Liberalismus und deſſen fultur- zerſtöreriſche Nivellierung zu verachten, aber gleichzeitig, weil die liberalen Blätter doch noch die höchſten Honorare zahlen, ſeine Feuilletons im Berliner Tageblatt zu ver— öffentlichen. Wie, und da wagt man noch, die Namen Kant, Fichte, Schopenhauer in den Mund zu nehmen! Keinem kommt der Gedanke, daß dieſen Männern und auch den Geringeren um ſie ſo etwas ganz und gar unmöglich ge— weſen wäre. Kann keiner mehr eine Viertelſtunde lang mit innerlicher Sammlung einem Gedanken ins Geſicht ſehen, und wenn er es tut, kann er die Schmiere ohne Schmerz ertragen? Kann er zweifeln, daß die erſte Tat, die ein Fichte heute tun müßte, die wäre: ſich von einer Kultur- wiſſenſchaft, die ſich ſo liberal definieren muß, daß ein Berliner Tageblatt ſie erträglich findet und bezahlt, aufs ſchroffſte loszuſagen, denn in der Anweiſung zum ſeligen Leben ſteht neben vielen ähnlichen Sätzen auch dieſer: „eine höhere Weltanſicht duldet nicht etwa neben ſich auch die niedere, ſondern jede höhere vernichtet ihre niedere und ordnet dieſelbe ſich unter.“ Uebrigens iſt die deutſche Philoſophie in ihrer heroiſchen Zeit mit Recht darauf beſtanden, daß auch die abſtrakteſten und vom Zentrum des Lebens entfernteſten Wiſſenſchaften ſich nicht vollkommen und abſolut von der Einheit einer religiöfen oder philoſophiſchen Anſchauung und Idee emanzipieren dürfen. Heute iſt dieſer Unſinn der Eman⸗ zipation Gemeingut geworden, und jeder Scherenſchleifer

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ſchreit für das Recht der freien Forſchung, und die Wiſſen⸗

ſchaften torkeln wie Beſoffene durcheinander. Und was iſt wohl heute von der deutſchen Philoſophie zu erwarten? Die weitaus Ehrlichſten, die Marburger, ſind Epigonen und deshalb im tiefſten Sinne ſchwach und beſchränkt, die ſeich⸗ ten Charlatanismen und geſchickten Jongleurkünſte Simmels ſind im tiefſten Sinn unehrlich; daneben fo viel Mageres, Dürres und Trockenes, ſo viel Schwammiges, Klebriges und Muffiges. Ganz zu ſchweigen von denen, die fo tun, als ob Kant auch bloß ſo getan hätte als ob, oder gar von den ſprachkritiſchen Affen, die über jeden Ernſt des Daſeins grinſend hinwegturnen. Bliebe nur noch Max Scheler, der viel begabt und vieles zu ſagen fähig wäre, aber er weiß nicht, was er will, iſt vieler oberflächlicher Strömungen Beute und rafft nie ſeine Kräfte zuſammen in einem Ganzen. Wohin die Emanzipa⸗ tion auf dem gefährlichen Gebiet der Kulturwiſſenſchaften führt und führen wird, dieſe Unterſuchung gäbe ein beſonde⸗ res Buch und wäre die Aufgabe für den, der mit dem reinen Willen und Gedanken die nötigen Kenntniſſe verbände. Denn allgemeine bedauernde Redensarten auf Grund einer vagen Einſicht und eine gewiſſe kontemplative Vornehm⸗ heit, oder beſſer eine feige Vornehmtuerei, die ſich mit ſo ſubalternen Dingen nicht einlaſſen will, helfen gar nichts. Nein, man müßte den Herren Schritt auf Schritt nach⸗ gehen, den Geſcheiteſten wie den Dümmſten, genau ſo wie Karl Kraus den Herren der Wiener Preſſe nachging und jeden Tag nachſah, was fein die Welt beherrſchendes Viechs⸗ zeug über Nacht wieder angeſtellt hatte. Es iſt die Idealität des Mannes und des Denkers (zum Unterſchied von der des Jünglings und Dichters), die ſich energiſch mit dem Werktag

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beſchäftigt und mit refoluten Händen auch in den Schmutz greift, wenn es nötig iſt, denn die Hände werden wieder gewaſchen und wieder rein. Nur hüte man ſich vor jenen, die um ſich nicht waſchen zu müſſen immerzu die Redens— art: ‚dem Reinen iſt alles rein im Munde führen; denn ſie ſtinken ganz ſicher. An Stoff für Pathos und Komik fehlte es nicht, denn was für gigantiſche Ochſen brüllen ihre wiſſenſchaftlich geſicherten Ergebniſſe in die Welt! Und mit Vorliebe auf Gebieten, die der Wiſſen— ſchaft überhaupt ein für alle Wal verſchloſſen ſind. Und welcher Art zuweilen die perſönlichen Vorausſetzungen derer ſind, die der vorausſetzungsloſen Wiſſenſchaft zu „dienen“ vorgeben, das weiß buchſtäblich der Teufel. Aber her mit dem Berliner Tageblatt. Es iſt immer dasſelbe, ob oben in der Politik die Wilitärgewalt als etwas Wittelalter— liches gebrandmarkt wird und der ganze Jammer nur iſt, daß die Juden nicht Offiziere werden, oder ob unter dem Strich der tanzende Holländer Felix einen Roman veröffentlicht, von dem man nur hin und wieder einige Zeilen zu leſen braucht, um zu wiſſen, daß er an hundsföttiſcher Verlogen— heit der Geſinnung nicht leicht ſeinesgleichen finden wird. Werden nicht viele, viele in Verzweiflung ſchreien? Oder wird nicht einmal das geſchehen? Wird keiner verſtehen, wenn ich ſage, daß in meinem platoniſchen Staat der tänzeriſche Burſche, der mitten in feinen von Freiſinns-Rotz triefenden Sätzen ein Kapitel aus den Korintherbriefen abdrudt, mit Ruten geſtrichen würde, und daß ich wüßte ach nichts auf der ganzen Welt wüßte ich ſo ſicher daß dieſe Tat dem Geiſte wohlgefälliger wäre als das Wohlergehen des Berliner Tageblatts.

Wenn der Papſt eine neue Enzyklika herausgibt, die

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mir, jedoch aus andern Gründen, auch nicht zu gefallen braucht, die aber immer noch mehr Kenntnis der menſchlichen Seele verraten kann, als die Pſychologieen der Herren Wundt oder Lipps, dann darf ſie der „Satiriker“ des Simpliziſſimus als Kloſettpapier anſprechen, und es ge- ſchieht weiter nichts, als daß ſich wahrſcheinlich die Auflage erhöht. Das iſt freilich kein Wunder, denn ein Papſt, der den Wirakelſchänder empfängt, und zwar mit dem Bür⸗ gerernſt des Jahrhunderts, nachdem er ſich zuvor „infor— miert“ hatte aber die großen Päpſte informierte ihr Inſtinkt, und Katholiken, die ſich oſtentativ für ſolche aus⸗ geben und ſich durch den Schwindel womöglich erbauen laſſen ſtatt dem Zirkusdirektor ins Geſicht zu ſchlagen, die den Feuilletoniſten des Berliner Tageblatts, welche dem Katholizismus großmütig „das Poetiſche“ laſſen wollen, für dieſe „Toleranz“ noch dankbar ſind, ſtatt ſie anzuſpucken, die einem Mauthner geſtatten, daß er mit unſagbar fremden Händen und einer Geſinnung von unausſprechlicher Farbe chriſtliche Legenden antaſte und beſchmiere. (Er tut es ja freilich mit Buddha auch, aber die Inder ſind weit weg und find vielleicht auch ſo!). Ja die europäiſchen Völker, Fürſten, Chriſten! Wo ſind ſie? Bei ſich zu Hauſe ſind ſie längſt nicht mehr . . . Schluß, zu ſpät! Aber es ſollte jenen „Satirikern“ wenigſtens das eine geſchehen, daß man ihre Lä— cherlichkeit erkenne, dieſe maßloſe, nie aufgedeckte, nie mit einem Witz geſtrafte Lächerlichkeit, wenn ſie ſich immerzu mit Hus, mit Galilei oder Giordano Bruno verwechſeln und ſich ſelber und hunderttauſend Dummköpfen ebenſo mutig und „zornig idealiſtiſch“ vorkommen wie Männer, die für ihre Reden und Schriften den Scheiterhaufen zu gewärtigen hatten, während ſie doch ganz behaglich leben und ihre

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Phraſen der Empörung, die genau jo in jedem linksliberalen Blatt ſtehen könnten, davon zeugen, daß auch Kampf und Leiden der Innerlichkeit nicht vorausgingen. Sie ma⸗ chen ihre demokratiſchen Witze „aus Prinzip“, was das Geiſtloſeſte iſt. Wenn ein Biſchof ſagt, daß es von Natur Herren und Knechte gebe, eine zwar unverſtänd— liche aber beſtehende Wahrheit (alle Angriffe der Zeit gehen gegen das Vnerforſchlich-Verſchiedene, die ſinnlich— ſeeliſchen Unterſchiede zwiſchen Mann und Weib werden rundweg geleugnet, mit den anatomiſchen geht es nicht ſo leicht, aber dieſe haben ja ihren Grund in jenen, die zuerſt find), jo wird er in allen ſozialiſtiſchen und liberalen Zeitun⸗ gen verſpottet oder aufs frechſte beſchimpft. Und don wem? Das iſt das überaus Wichtige! Es ſind nicht die Knechte, die vor den Palaſt eines Biſchofs ziehen und dieſem in Leidenſchaft widerſprechen, denn das hätte Sinn und ſolche Empörer brauchen nicht gottverlaſſen zu ſein. Nein, der „dritte Mann“ kommt. Irgend welche weiß Gott woher gelaufene meiſt jüdiſche Literaten, ohne innern und äußern Zuchtmeiſter, die unter dem Wort des Biſchofs nicht leiden, denen auch der Biſchof gar nichts getan hat, oder tun kann, wollen Geld verdienen. Sie entdecken eine jati- riſche Ader in ſich; ſie entnehmen der blutigen Wenſchheits⸗ geſchichte Worte und Begriffe, die einmal wirkliches Leiden, aus wirklicher Unterdrückung und Empörung hervorgegan⸗ gen, geboren hat, und machen daraus eine Satire gegen den Biſchof. Und dieſe Satire von irgend einem Karlchen oder andern Kerlchen oder Ferkelchen wird von Hundert- tauſenden geleſen, von denen viele ſterben werden ohne auch nur geahnt zu haben, was für eine ungeheure Schamlofig- keit und ethiſche Dummheit hinter ſolcher „Freiheit“ ſteckt.

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In Wahrheit iſt heute der Oeffentlichkeit gegenüber nie⸗ mand wehrloſer als die angeblich herrſchenden und unter- drückenden Mächte und niemand wehrfähiger und geſicher⸗ ter als ein Freidenker, der ein großes Maul und eine große Zeitung hat. Wenn dem das Ende eines Härchens gekrümmt wird, entſetzen ſich morgen Willionen, denn es wird in einem Ton und mit einem Geſchrei bekanntgegeben, daß man meinen könnte, nicht nur alle Geſetze und die ganze Verfaſſung ſeien verletzt worden, nein: die kosmiſche Ordnung ſei in Gefahr, und daß Mond und Erde nicht aufeinanderſtürzen, ſei rein nur noch das Verdienſt der Wiſ⸗ ſenſchaft, die ein Einſehen und ein Witleid hat. Hier liegt auch jeden Tag das Komiſche in Fülle da. Und mur die einzige Fackel ſieht es, niemals der Simpliziſſimus. Narren, die meinen zur Erkenntnis des wahren Komiſchen gehöre nur ein vifer Intellekt und nicht auch ein reines Herz, Schufte, die meinen, es gehöre Frechheit dazu und nicht im Gegenteil Scham.

Ward ſolcher Wirrwarr je erlebt. Und ahnt ihn viel⸗ leicht die hohe Literatur? Ach, alle Worte, Begriffe und Gefühle gehen ein in Wauthners Rieſenwörter⸗ maul und werden dort zu Brei. Und jedes Maul gleicht dieſem Maul, und wo es ſich auch auftue, es fließt Brei, dicker und dünner, in allen Blättern, Rundſchauen und Revuen und auf jedem Forum der Zeit, das in Wahrheit ein Reinhardt'ſcher Zirkus iſt, in dem das Wirakel nach Belieben geſchieht, daß ſich Nietzſche und Sozialdemokraten als gute Europäer in die Arme fallen, denn ſie wollen dort nicht Ontologie treiben, ſondern Deontologie, aber ſiehe da, fie treiben Mä⸗äh⸗ontologie. Immer neue Reiſende müſſen den Brei hinaustragen in die Welt. Schon der

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alte Merkur war meiner Kinderphantaſie äußerſt unſym⸗ pathiſch, ſie ahnte in ihm eine Antizipation des modernen Menſchen; immerhin er war der Bote der Götter und kam vom Olymp herab. Aber der neue, weſſen Bote kann er ſein und was ſeine Botſchaft? Haben die Banken ihn angeſtellt, ſendet das Chaos ihn aus, ſich zurückzugewinnen die Welt? Ach ſchließt und bewahrt euer Haus vor dieſen Geſtalten. Ihrer ſind viele und immer ſind ſie unterwegs und von den Mundwinkeln trieft ihnen der Brei, den fie ſich eingequirlt haben aus allen öſtlichen und weſtlichen Kulturen, die waren und verweſt find. Nein ich mag ihnen nicht begegnen, ich mag ihnen nicht gegenüberſitzen im D-Zug, wenn fie gerade auf der Tour find, jo zwiſchen den Zentren deutſchen Geiſtes— lebens: Wien⸗München⸗Fürth⸗ Berlin und retour. I don't like. Will einer bieten? Tauſend Kellermänner für einen Dunkelmann. Geht nicht. Hundertzehntauſend Kellermän⸗ ner und tauſend Waſſermänner für einen Dunkelmann! Geht nicht, geht nicht. Hilft nichts. Zu ſpät. Vor 1846 ſchon war in Europa der dritte Hammerſchlag gefallen. Doſtojewski war ja bekanntlich des Glaubens, daß die weſteuropäiſchen Völker vollſtändig dem Judentum verfallen ſeien. Und die Entwicklung hat ihn nicht etwa Lügen ge= ſtraft, wie Herr Samuel Saenger, commis vojageur &s sciences politiques et metaphysiques meint, der Moſſe und Ullſtein für den wahren Tag hält, und Scherl für die Nacht; ſo ſcharf ſcheiden heute die Kulturwarenhaus⸗ Inhaber Licht von Finſternis. Im Gegenteil, Doſto⸗ jewski ſah vielleicht noch grau, wo doch ſchon ſchwarz war, und fein eigenes Volk wird wohl demſelben Schickſal ent⸗ gegengehen. Das iſt nicht einmal eine Anklage gegen das Judentum man ſuche die Schuld nur immer zuerſt im.

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eigenen Haus wohl aber eine Anklage gegen die weſt⸗ europäiſchen Völker. Denn wenn fie für jüdiſches Geld ſich dem jüdiſchen Geiſt verkauft und dieſen durch die un⸗ beſtechliche Gerechtigkeit des Daſeins als Zugabe bekommen

haben, jo daß heute kein Unterſchied mehr iſt, jo war das ja nicht ein Unglücksfall, der ihnen von ungefähr nach mecha⸗ niſchen Geſetzen zuſtieß, ſondern eine Handlung, die im Reich der Freiheit und unter Verantwortung geſchah. Sie wollen von der Ewigkeit nichts mehr wiſſen, alle Ethik ſoll in der Zeit und in der Sorge für die nächſte Generation beſchloſſen, ſoll „biologiſch“ ſein. Gut, aber glauben ſie wirklich, das was ſie getan haben und tun, heiße in Wahrheit für Kinder und Kindeskinder ſorgen? Kurzſichtige Narren das! Aber auch hier gilt: jetzt iſt es zu ſpät. Die Rettung des Einzelnen kann nur unter religiöſen Vorausſetzungen ge⸗ ſchehen; nur ſo kann er zu neuer Unmittelbarkeit kommen, ohne die das Leben doch nur eine Farce iſt.

Bei Pascal heißt es: abetissez - vous, bei Kierkegaard um einen ganzen Grad ſtärker: werdet klüger als der Klügſte und handelt gegen die Klugheit. Beide Sätze ſind polemiſch gegen die Welt und ſtellen darum die Negation in den Vordergrund und verſtecken die Poſition, ſo daß es für die Welt ſo ausſehen muß, als bleibe überhaupt nichts übrig als Unſinn und Wahnſinn, Aergernis und Tor⸗ heit. Die Trennung zwiſchen der Welt und dem Geiſt der Religiofität iſt hier fo ſchroff und abſolut, daß ſich beide nur im Paradox treffen können d. h. in einem Punkt, in dem ſie ſich, anſtatt ſich zu vereinigen, am ſtärkſten abſtoßen. Je⸗ doch iſt ein Unterſchied, indem der Geiſt gleichſam ein Auge mehr hat als die Welt und hinter dem, was für ſie Vichts

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oder Wahnſinn oder Torheit if, eine neue Ord— nung der Dinge erkennt. Um zu einigermaßen tieferen Er⸗ kenntniſſen zu kommen braucht das Denken in ſteigenden Graden immer konkretere Vorausſetzungen. Eine Philo⸗ ſophie kommt genau bis dorthin, wo ſie angefangen hat. So kann natürlich nur ein Ketzer der vorausſetzungsloſen Wiſ⸗ ſenſchaft und Philoſophie reden, aber es ſei jo. Dieu prin- cipe et fin ſagt Pascal. Ich ehre den Denker, der erſt die ganze Welt braucht, um ein Atom denken zu können, ich ehre jenen noch mehr, der wie Descartes erſt Gottes ſicher fein muß um die Wahrheit eines Satzes der Geometrie ein⸗ zuſehen, aber ſtaunend ſtehe ich vor dem Denker, der ohne den Glauben an die Liebe Gottes und an die Sündigkeit des Menſchen ein lallender Irrer würde, nun aber mit dieſen für den Verſtand ungeheuerlichen Vorausſetzungen, auf die er von ſelber nie gekommen wäre, in das Innere von Welt und MWenſch eindringt, wie unbedingt keine andere Art von Denkern, die mit weniger paradoxen Vorausſetzungen phi⸗ loſophieren. Daß übrigens die drei genannten Vorausſetz⸗ ungen nur Erfindungen müßiger Gehirne ſeien, ja wer be⸗ hauptet das? Doch nur die Vorausſetzungsloſen! In Wahr⸗ heit ſind ſie alle drei gegründet: die erſte auf den Verſtand, die zweite auf die Vernunft, die dritte auf den Glauben an eine Offenbarung.

Hinter jeder bloßen Metaphyſik, die aus der dichteriſchen Unmittelbarkeit und aus dem noch ungeläuterten Einsſein mit ihrem Objekt und ihrer Welt nicht zur Ethik und zur Vergeiſtigung übergeht, das will alſo heißen: zur Subjek⸗ tivierung, denn nichts anderes iſt die Vergeiſtigung, lauert ein undurchſichtiges, lichtſcheues Element: eine Feigheit.

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Liebenswürdig wie immer, aber auch naiv eigentlich dürften doch nur Frauen, Kinder und Dichter ſo naiv ſein jagt Bergſon einmal in „Le Rire“, daß die Natur auch ir den beſten Menſchen noch einen Fonds von Bosheit ge⸗ laſſen habe, und fährt fort: peut-ètre vaudra-t-il mieux que nous n'approfondissions pas trop ce point. Nous n'y trouverions rien de très flatteur pour nous. Ach das iſt faſt das Räſonnement eines Boulevardiers und könnte auch in einem Buch von Anatole France ſtehen. Man iſt doch ſonſt recht neugierig, warum hört gerade hier die Neugierde auf? Unintereſſant wäre die Sache doch nicht, gar nicht lang⸗ weilig! Iſt man einfach zu wohlerzogen? Oder iſt die Philoſophie erfunden, um den Wenſchen zu flattieren? Ginge Bergſon um einen qualitativen Grad tiefer in ſeiner Philo⸗ ſophie, ſo würde er doch zugeben müſſen, daß der Gedanke der Geiſtigkeit geradezu gebieteriſch verlangt, daß dieſer Fonds von Bosheit ans Licht und zur Offenbarung komme. Oder wie denken ſich das die Metaphyſiker? Glauben ſie, daß er von ſelber verſchwinde oder daß er der Wenſchheit ge⸗ ſchenkt werde? Aber wir ſind hier doch wohl im Reiche der Ethik und der Freiheit, und da geſchieht nichts von ſelber, das iſt nun einmal ſo. Oder ſollte es nicht Quackſalberei ſein, wenn ein Arzt die Wunde ſich ſchließen läßt, unter der noch ein „Fonds“ von Eiter weiterfrißt? Aber laſſen wir das, ein zu ranges Kapitel, das vom ſchwachen Punkt einer jeden Metaphyſik handelt. Auch Schopenhauer, der doch von anderem Kaliber war, hat dieſer Feigheit der Meta⸗ phyſik ſeinen Tribut abzahlen müſſen. Es kann nämlich nicht Mangel an Hirnkraft geweſen ſein, der den großen Denker dazu führte, über die letzte, unzerſtörbarſte und tiefſte Wirklichkeit die Individuation die ſchwächſten

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und oberflächlichſten Gedanken gehabt zu haben, fondern der Grund dafür muß im Woraliſchen liegen. Selbſt⸗ verſtändlich rede ich hier nicht vom Woraliſchen im bürger- lichen und konventionellen Sinn, ſondern im ewigen und religiöfen, dem jeder ſich auf Gnade und Ungnade zu unter- werfen hat, alſo auch der, der hier ſchreibt und der, bei Gott, nicht behaupten will, daß er mutiger ſei als Schopenhauer. Jedoch habe ich nie begriffen, daß Schopenhauer es fer— tig bringen konnte, wiewohl ſonſt ſo glücklich in der Wahl von Bildern und Vergleichen, ſich für die Tatſache der In— dividuation mit dem bis zur Lächerlichkeit unzulänglichen und falſchen Vergleich der Facettenſpiegelung zu begnügen und ihn immer von neuem zu wiederholen. Freilich lag ihm hier ſeine ganze Wetaphyſik im Weg, weil er dem Willen den Geiſt nicht ließ und Raum und Zeit zu Prinzi⸗ pien der Individuation machte, während doch Raum und Zeit zehntauſendmal vergehen können, ehe am Prinzip der Individuation, das im Geiſt ruht, auch nur ein Partikelchen zerjtört werden kann. Trotzdem, es iſt vom Verſtand her nicht zu begreifen, und einmal in den Parergen hat ſich Schopenhauer vergeſſen: da redet er vom individuum ineffabile ſogar eines Tieres. Wan könnte faſt auch hier ſagen: „der Sünde Maß iſt der Strafe Maß“, denn Schopenhauer wird auf grauſame Wei⸗ ſe beſtraft, indem dieſe ſeine oberflächlichſte und falſcheſte Lehre ſolchen Philoſophaſtern wie Wauthner, noch etwas indiſch aufgeputzt, am beſten zuſagt. Zwar wird Schopenhauer auch hier gründlich mißverſtanden, da er an einer moraliſchen Verantwortlichkeit über den Tod hinaus natürlich nie ge⸗ zweifelt hat. Aber einem gewiſſen neuerdings in die Philo⸗ ſophie und in die Wiſſenſchaft eingebrochenen Geſindel täte es fo paſſen, 60 oder 70 Jahre lang die mit Blut und

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Opfern und den Leiden der Verantwortung geſchaffenen Anlagen der Wenſchheit „behaglich lächelnd“ zu verpiſſen und dann verantwortungslos zu verſchwinden. Das tät ihnen ſo paſſen, aber nicht einmal ſie entgehen der Ewigkeit.

Das Weltbild, das Kierkegaards Kritik für den Einzelnen

übrig läßt, findet alſo ſeine volle Erklärung nicht in einer hiſtoriſchen Entwicklung, die nur den Anlaß abgibt, ſondern in der Metaphyſik und in der Religion. Geſetzt es käme wieder irgend ein friſches Volk mit unmittelbaren Kräften zur Herrſchaft, wiewohl ich nicht weiß, wo ein ſolches Volk ſein ſollte, ſo würde das Weltbild Kierkegaards verdeckt ſein und nur offen für den Auserwählten, für die abſolute Ausnahme, den Heiligen oder den Religionsſtifter, jo lange als jenes Volk in Staat, Kirche und Familie eine einheitlich geſchloſſene organiſierende Macht hätte, die die Richtung nach einem geiſtigen Ideal hat und ſich Autorität und in⸗ nere Zuſtimmung verſchaffen kann. Das iſt der Gedanke, den Doſtojewski hatte, wenn er vom Gottesvolk ſprach, und urſprünglich hat ja gewiß jedes Volk dieſe Unmittelbarkeit beſeſſen und hat ſie mit vollem Recht immer auf Gott bezogen. Aber ſobald ſich dieſer Fonds an unmittelbar gemeinſamer, die Verſchiedenheiten der Menſchen und Stände ſchaffender und anerkennender Kraft erſchöpft hat, und zwar durch Schuld der Menjchen, oben durch Wiß⸗ brauch und Ueberhebung, unten durch Neid und Reſſen⸗ timent bislang hat ſich ja noch jedes Volk, wenn es nicht überhaupt in Lethargie und geiſtigen Todesſchlaf ver⸗ fiel, auf ſolche Weiſe zu Grunde gerichtet dann ſteht jenes Weltbild wieder da als die alleinige Möglichkeit der Rettung für den Einzelnen.

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In Fichtes Anweiſung zum ſeligen Leben wird auch eine Weltanſchauung gegeben, die die ſinnliche Welt nur als „die Sphäre der Freiheit“ betrachtet, als den Tummelplatz des ethiſchen Willens. Dieſe Welt iſt noch nicht die Kierkegaards. Sie iſt farbloſer und ungefährlicher; ihr fehlt das letzte discrimen. Sie kennt noch nicht den abſoluten Unterſchied zwiſchen Gut und Böſe, noch nicht das Wunder der Sünde auf der einen und der Gnade auf der andern Seite, in ihr exiſtiert noch nicht die letzte, total gedachte Gefahr, die bei Kierkegaard in jedem Augenblick da iſt: daß ein Menſch ganz verloren gehen könne. Das drückt ſich am ſchärfſten darin aus, daß für Fichte die Reue eine überflüſſige Zeit⸗ verſchwendung, ein vollkommen fruchtloſer Kraftaufwand iſt, während ſie für Kierkegaard das auch denn immer läßt er erſt der Natur ihr Recht geſchehen, ehe das Leben des Geiſtes beginnt aber dann zugleich ein notwendiger Weg und ein Akt der Rezeptivität für die Gnade iſt. Eines freilich kennt Fichte doch: den Selbſthaß, eine Wedizin, von deren Exiſtenz und Heilkraft die Zeit keine Ahnung zu haben ſcheint; aber nähme ſie nur einige Tropfen von ihr, ſie bekäme bald eines reineres Geſicht.

Das iſt das Große und Ewige an Kierkegaard, daß ſein Gedanke immer die Totalität will. So iſt ſein Weltbild die vollkommene restitutio in pristinum. Jetzt ſteht der Menſch wieder an ſeinem Platz; jetzt iſt das Leben wieder gefährlich wie am Tag, als es zum erſten Mal dem Tod ins Geſicht ſah, und iſt es nach unerforſch⸗ lichem RNatſchluß immer und in jedem Augenblick in dieſer Welt. In jeder Winute und allzeit ſieht für den alſo Lebenden und Wachenden die Welt ſo aus wie am Tag, als zum erſten Mal die Erkenntnis den zarten Kindertraum

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zerriß und die Welt nackt war. In dieſer entblößten Welt wird Chriſtus nicht zufällig und einmal gekreuzigt, ſondern notwendig und für alle „Zeit“, ſo daß der alſo Wachende und Lebende die tiefen Worte Pascals verſtehen muß: Jesus sera en agonie jusqu’ à la fin du monde: il ne faut pas dormir pendant ce temps-la. Was für ein Feuer muß in einem Wenſchen brennen, daß er dieſe Worte ſchreiben kann. Und wo iſt der Wann, der ein ſolches Leben zu führen vermag. Ich neige mich vor ihm als dem größten Helden. Dagegen habe ich bis zum Ekel die Narren ſatt, die dieſes Lebens majeſtätiſche Größe nicht einmal faſſen und ſich vor ihm nicht wenigſtens beugen. Sie leug⸗ nen lieber das Heilige, als daß ſie ſich im Vergleich mit ihm gering vorkommen, ſie meinen, weil ein Jahr ganz von ſel⸗ ber zum andern ſich fügt und weil Zeitſchriften und Zeitungen ihren Dreck drucken und weil ihre „Dichter“ fo „ſchöpferiſch“ ſind, daß ſie aus dem puren Nichts oder noch Schlimmerem einen Haufen Gold erſchaffen, werde der ewigen Dinge ewige Rangordnung plötzlich geſtürzt und es gebe kein Oben und kein Unten mehr, zwiſchen denen ein Menſch zu wählen hat. Aber wer ſich nur einmal in einer Stunde der Inner⸗ lichkeit das Leben eines Kierkegaard anſah, weſſen Auge einmal im Zuſtand der Empfängnis war, ſo daß er in jedem Geſicht, auch dem ſchönſten noch, den bibliſchen Fluch las und erkannte, und hinter jedem Auge, auch dem reinſten und klarſten noch eine dunkle Angſt lauern ſah, für den kann das Leben wieder gefährlich ſein wie am Tag, als es zum erſten Mal dem Tod ins Geſicht ſah, er hat es in ſeiner Macht, die Welt wieder fo zu ſehen, wie fie ausſah am Tag, als zum erſten Mal die Erkenntnis den zarten Kindertraum zerriß und die Welt nackt war. Und ſolche Erkenntnis

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gräbt ihm ein geheimes Zeichen in die Stirn, das ihn kenntlich macht für ſeine Brüder im Geiſt, die die verloren gegangene Melodie wieder ſuchen, und in ſeinem Weſen wird eine Fremdheit liegen, gegen die die Welt ſelbſt dann noch mißtrauiſch iſt, wenn er mitten in ſie W und verſtrickt wäre.

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THEODOR HAECKER

SOEREN

KIERKREGAARD UND DIE

PHILOSOPHIE DER

INNERLICHREIT

PREIS BROSCHIERT 2 MARK I. F. SCHREIBER, MÜNCHEN 1913

BRENNER VERLAG INNSBRUCK

DER BRENNER

herausgegeben und geleitet von Ludwig von Ficker / erscheint halbmonatlich mit Ausnahme der Monate August und September Jährlich 20 Hefte K 8.— (Mk. 7.—). Einzelheft 50 hl (45 Pfg.)

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TIROLS KORYPHÄEN

Karikaturen von Max Esterle. Preis K 1.80 (Mk. 1.50)

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STUDIEN ÜBER KARL KRAUS

von Carl Dallago / Ludwig v. Ficker / Karl Borromäus Heinrich

Mit einer Zeichnung von Max v. Esterle Brosch. K 1.20 (Mk. 1.—)

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‚SCHRIFTEN VON SÖREN KIERKEGAARD

Zum ersten Mal ins Deutsche übertragen von THEODOR HAECKER

DER PFAHL IM FLEISCH Mit einem Vorwort von Theodor Haecker Brosch. K 1.20 (Mk. 1.—)

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KRITIK DER GEGENWART Mit einem Nachwort von Theodor Haecker Brosch. K 1.20 (Mk. 1.—)

BRENNER-VERLAG / INNSBRUCK

SCHRIFTEN VON CARL DALLAGO PHILISTER

Essay Brosch. 80 hi (75 Pfg.)

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OTTO WEININGER UND SEIN WERK Studie Brosch. K 1.— (85 Pfg.)

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UEBER EINE SCHRIFT „SOEREN KIERKEGAARD UND DIE PHILOSOPHIE DER INNERLICHKEIT“

Brosch. K 1.20 (Mk. 1.—)

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DIE BOSE SIEBEN Essays Brosch. K 3.60 (Mk. 3.—), geb. K 4.80 (Mk. 4.—)

* In Vorbereitung für 1915:

DER GROSSE UNWISSENDE Eine Lebensführung

DER CHRIST KIERKEGAARD’S Studie

URTEILE ÜBER DEN BRENNER

. V. Widmann im Berner „Bund“: Eine Tiroler Zeitschrift.

eit einiger Zeit geht uns aus Tirol eine Halbmonatsschrift zu, die den glücklich gewählten Titel „Der Brenner“ führt und in ihrem eigenen Verlag zu Innsbruck erscheint. Von dem schönen Berg, dessen uralte Straße (wie die neuere Bahn) Nord- und Südtirol verbindet, hat sie den Namen, bei dem man aber gern auch ans Brennen denkt, an ein Entbrennen für Schönes und Gutes, an Flammen, die aus heiliger Glut emporlodern und ebenso an die verzehrende Kraft, die dem Feuer eignet und wohltätig wirkt, wenn sie Schlechtes versengt. Dieses Glühen nun sowohl wie dieses Sengen finden wir in den uns bisher zu Gesicht gekommenen Heften der im Format bescheidenen, in den Gedanken kühnen Zeitschrift.. . Im Ganzen ist „Der Brenner“ eine Kampfzeitschrift der jüngeren Generation, die in Kunst und Kultur durch lebensvolle Anschauungen manches Veraltete beseitigen will, aber vor dem Echten, sei es alt oder modern, Ehrfurcht hegt.

Karl Kraus in der „Fackel“: .. Daß die einzige ehrliche Revue Oesterreichs in Innsbruck erscheint, sollte man, wenn schon nicht in Oesterreich, so doch in Deutschland wissen, dessen einzige ehrliche Revue gleichfalls in Innsbruck erscheint.

Heinrich Mann... Empfangen Sie meinen herzlichen Dank für die Ser- dung Ihrer so interessanten Zeitschrift und besonders für den mir gewid- meten Aufsatz. Darin stehen, wie mir scheint, viele ungewöhnlich tiefe Din- ge. Jedenfalls ist es einer der besten, die über mein Buch erschienen sind.

Wilhelm Schmidtbonn: ... Nicht nur über den schönen Aufsatz, der meinem Drama „Der Graf von Gleichen“ galt, habe ich mich gefreut, sondern auch die freie Art und der Reichtum Ihrer Zeitschrift hat mir eine große Freude gebracht. Ich spüre darin die alte Kraft der Berge und den Wind, den ich in meinem Innsbruck so lieb gehabt. Es gibt kaum in unserem Deutschland eine Zeitschrift so mannhaft und zugleich von einer so goldenen, heiteren und fruchtkräftigen Besonnen- heit, wie sie z. B. aus Ihrem Mitarbeiter Carl Dallago spricht

Pester Lloyd Ein junges Blatt, das aber mit einer scharf um- rissenen, prägnanten Selbständigkeit in das Geistesleben der Gegen- wart tritt. Es steht wie ein geschlossener Block auf und läßt erkennen, daß es eine Phalanx bilden will wider alle unlautere Beeinflussun

in Kunst und Kultur. Und so groß dieses Vorhaben ist, die Zeitschri

zeigt, daß sie ihm gewachsen ist... Der „Brenner“ ist ganz danach an- getan, sich wie ein Keil in dasLiteraturwesen der Gegenwart zu schieben.

Der Bund (Bern)... So oft uns die Zeitschrift „Der Brenner“ zu- geht, müssen wir uns immer wundern, gerade in einer im heiligen Land Tirol (in Innsbruck) erscheinenden periodischen Veröffentlichung einer kühnen Drauflosgängerei in allen Fragen der Poesie, der Philo- sophie und des Lebens zu begegnen, wie man solche vorurteilslose Freiheit des Denkens und der Diskussion sonst nur in mutigen Kampf- blättern von Weltstädten wie in Berlin, Wien oder Paris antrifft.... La Voce (Florenz) Rivista d’avanguardia, senza colore politico, fatta da giovani. La sua nota dominante: sinceritä . .. Bisogna leggere il „Brenner“ per sapere che cosa sia vivo nell’ Austria intellettuale d’oggi.

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University of British Columbia Library

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